: Frisör und Künstler
■ Das Kasseler Fridericianum zeigt Harry Kramer
Mut gehörte dazu, vom „Frisör aus Lingen“ zum Kunstprofessor in Kassel zu wechseln, Mut auch dazu, den umfangreichen Katalog zur Retrospektive des 65jährigen Künstlers mit eben diesem „Frisör“-Titel zu versehen. Aber Kramer vertraute wohl auf sein an zahllosen Kleinstausstellungen erprobtes Marketing-Talent. Keine Aktion ohne Publikation, dazu die permanente Herausforderung an die Medien, auf das, was Kramer oder das Kasseler „Atelier Kramer“ gerade veranstalteten, zu reagieren — und mit dem „Ein Frisör aus Lingen“ der überdeutliche Hinweis auf die regionale Variante des „Vom Tellerwäscher zum Milionär“, wie das Katalogvorwort gleich bemerkt.
Auf der dritten Documenta 1964 war Kramer mit beweglichen Drahtskulpturen vertreten, in denen kleine Zahnräder zerbrechliche Drahtgeflechte auf und nieder hoben, mit Käfigen, in denen es summte und zirpte: kleine Welten, wie von Palmström entworfen, eher verspielt als radikal und gegenüber den strengeren Prinzipien der Zero-Kinetiker für das Publikum leichter zu akzeptieren. Seit 1966/67 wurden die kleinteiligen Maschinen und Konstruktionen dann durch plakativ-großteilige „Möbel“ und „Bauelemente“ (so die Serienbezeichnungen einiger Werkgruppen jener Jahre) abgelöst, die amerikanische Pop-Art und besonders Robert Indiana haben mehr als nur Spuren hinterlassen. Dem Einbruch des Designs in die Kunstwelt begegnete Kramer mit Polyester-„Bojen“, dem Aussteiger-Bewußtsein der frühen Siebziger mit „Brotköpfen“. Seit 1979, lediglich unterbrochen von einigen „Pinkelbildern“, setzt Kramer Bibeltexte in Punktbilder um. Große farbige Tafelbilder, an denen das Interessanteste, nämlich die Apparatur, mit deren Hilfe sie verfertigt werden, in der Ausstellung nicht gezeigt wird. So entsteht der Eindruck, daß Kramer ruhig, wenn nicht gar meditativ geworden sei, obwohl die (nicht ausgestellten) Schablonen und die Bestimmung des Farbcodes bestätigen könnten, daß Kramer ein Tüftler geblieben ist: in der Kunst und in eigener Sache. Denn was hier nur summarisch angedeutet werden kann, die Vielstiligkeit des Werkes und das Ablehnen von Einzelwerken, die Betonung der Serie, ist wesentliches Element der Strategien und Tüfteleien Kramers, ein Künstler zu werden.
Als Kunstlehrer hatte und — hoffentlich — hat er nicht unerheblichen Einfluß auf das gegenwärtige Kunstgeschehen. Befreundete KünstlerInnen wie Rune Mields, Erwin Heerich oder F.E. Walther läßt er — bislang allerding nur im Modell realisierbar — in der Nähe der Kasseler Wilhelmshöhe ihr eigenes Künstlergrab schaufeln.
Ob es geklappt hat, ein großer Künstler zu werden, entscheidet sowieso die Nachwelt. Ein Vergnügen ist es allemal, die Autobiographie des von sich selbst etwas hausbacken in der dritten Person berichtenden Harry zu lesen, der wachsen wollte und nicht mehr wuchs, und zu sehen, was alles geklappt hat: die Retrospektive, die vielen Pressestimmen im dicken Buch. Und weil Bücher im Regal vergessen oder übersehen werden können, ist ein Bastelbogen für ein Architekturelement Kramers beigegeben. Das wird dann gebaut, und dann fragen die Besucher, was das sei, und Kramer wird berühmter und berühmter und berühmter.
Jörg Stürzebecher
Ursula Wenzel
Museum Fridericianum, Friedrichsplatz, Kassel, bis. 1.4.; der Katalog hat 198 Seiten und kostet an der Museumskasse 45,— DM
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