Friedhofsforscher über digitale Trauer: „Im Internet gibt es keine Regeln“
Unsere Gedenkkultur wird lockerer. Weil die Gesellschaft ungleicher wird, trauern wir individueller, sagt der Soziologe Thorsten Benkel.
taz.am wochenende: Herr Benkel, wie trauern wir heute?
Thorsten Benkel: Unsere Gesellschaft stellt in allen Lebensbereichen den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt. Genau daran passt sich die Trauerkultur an. Wir glauben überwiegend nicht mehr an Gott oder an das Jenseits. Aber wir glauben, dass das Leben einen Sinn hat. Wir finden diesen Sinn in einem Hobby, einer Leidenschaft, dem Partner oder in einer politischen Einstellung. Was zählt, ist das, was das Leben des Einzelnen einzigartig gemacht hat. Und deshalb wird Trauer immer differenzierter und individueller.
Wie hat sich das gesellschaftlich entwickelt?
Die ersten Formen der Individualisierung finden wir im19. Jahrhundert. Fotografie entstand 1839, und kurze Zeit später hingen die ersten Fotos an Grabsteinen. Die Nazis haben das allerdings abgeschafft. Die individuelle Gestaltung von Grabsteinen widersprach der Idee einer großen Volksgemeinschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die von ihnen eingeführten strengen Friedhofsvorschriften nicht mehr gelockert. Erst in den 80ern hat sich das geändert. Dann wurde ein Foto oder ein Teddybär auf Kindergräber geduldet.
Der Friedhof ist ein Ort, an dem Trauernde zur Ruhe kommen. Doch warum legt man online eine Gedenkseite an?
Der Friedhof ist schon lange nicht mehr nur ein Ort der Ruhe. Es gibt Friedhöfe, da kann man angeln, grillen, zelten, Sport machen. Es gibt sogar Spielplätze für Kinder. Der Friedhof wandelt sich. Trauerseiten sind nur die logische Konsequenz daraus. Man legt eine Gedenkseite an, auch um sich auszutauschen. Die Forumsfunktion gilt als eine Art gemeinschaftsstiftendes Element. Vielen geht es nicht um den Inhalt, der gepostet wird, es geht darum, zur Gemeinschaft der Trauernden zu gehören. Sie wollen mit dem Verlust des geliebten Menschen nicht alleine sein. Das Internet ist also viel dynamischer als ein Grabstein auf einem Friedhof.
Wird die Möglichkeit zur Interaktivität im Internet nicht auch missbraucht?
Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen. Vor einigen Jahren hat ein junger Mann, der aus einer ländlichen Gegend stammte, auf Facebook gepostet: Ich geh jetzt. Seine Freunde haben darunter geschrieben: Alles klar, wir sehen uns später. Der Junge hat sich getötet. Er war Feuerwehrmann, ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft. So lange, bis man herausfand, dass er einige Brände selbst gelegt hatte. Deshalb wollte er nicht mehr länger leben. Nach dem Tod haben sich seine Freunde für die Kommentare auf Facebook entschuldigt, und mehr noch: Die Gemeinschaft hat sich dort ein versöhnliches Meinungsbild über den Verstorbenen zurechtgelegt, obwohl sein Leben und auch sein Tod umstritten gewesen sind. Diese Dialoge, die auf der Gedenkseite stattfanden, wären im realen Leben, am Grab stehend, niemals ausgesprochen worden.
38, forscht und lehrt Soziologie an der Universität Passau. Gemeinsam mit seinem Kollegen Matthias Meitzler veröffentlichte er 2014 das Buch „Gestatten Sie, dass ich liegen bleibe – eine Reise über die Friedhöfe von heute“.
Weil es gesellschaftliche Regeln gibt, wie man sich auf dem Friedhof verhalten muss?
Trauern ist eine normative Konstruktion. Wir bekommen vor allem durch Erziehung vermittelt, dass es traurig ist, wenn jemand stirbt. Schwarze Kleidung und die Teilnahme an einer Beerdigungsfeier sind Formen dafür, wie Traurigkeit signalisiert werden kann. Der älteren Generation reicht das, um ihre Trauer auszudrücken. Junge Menschen finden sich in diesem Rollenspiel nicht wieder. Sie suchen sich einen anderen Weg und gehen online. Im Internet gibt es allerdings keine festen Regeln, wie dort getrauert werden soll, darf und kann.
Im Internet werden diese Regeln also aufgelöst?
Ja, dort kann im Prinzip jeder trauern, wie er will. Unsere Trauerkultur wird allgemein lockerer. Ich habe Bestattungsfeiern gesehen, da lief die „Star Wars“-Musik, weil der Verstorbene großer Fan des Films war. Nicht alle engen Angehörigen lassen die Trauerfeier so gestalten, es geschieht aber immer häufiger. Im Internet, da hat das alles Platz. Dort gibt es niemanden, der sagt: Du darfst das nicht machen, das muss anders laufen.
Aber sind kitschige Bilder und traurig guckende Facebooksmileys nicht pietätlos?
Trauer ist immer im sozialen Wandel und dieser ist niemals pietätlos. Als die ersten Fotos kamen, wurde auch geklagt, das sei pietätlos. Als die ersten Berufsbezeichnungen auf die Grabsteine geschrieben wurden, hat man gesagt, das sein pietätlos; und jetzt gibt es eben den Aufschrei, dass digitale Trauerformen pietätlos seien. Diese Rede von Pietätlosigkeit kommt meist von Menschen, die wegen ihrer Sozialisation neue Formen ablehnen. Aber sozialer Wandel heißt, dass sich Werte, Einstellungen und Normen nun einmal verändern.
Zurück zu den Gedenkseiten. Ist es gefährlich, das Private so ins Öffentliche zu tragen?
Genau das ist auch die Idee des Friedhofs. Das Grab ist ein öffentlicher Ort. Die Menschen, die Gedenkseiten anlegen, haben nicht unbedingt das Ziel, dass möglichst viele die Seite besuchen. Manchmal ist die Seite auch mit einem Link oder Passwort nur für eine bestimmte Gruppe sichtbar. Ich will damit sagen, dass mit dem Internet nicht automatisch Voyeurismus verknüpft ist. Im Prinzip ist die Trauer nur öffentlich, weil die Struktur des Internets Öffentlichkeit zulässt.
Aber eine Gedenkseite im Internet ist schon eine Art der Inszenierung.
Gedenkseiten sind immer etwas Erbasteltes, das muss man im Hinterkopf behalten. Aber auch Grabsteine sind nicht authentisch. Finden Sie mal einen Grabstein, auf dem etwas Negatives über die verstorbene Person steht. Das gibt es mittlerweile, aber selten. Wie man Tote erinnert, ist eine Konstruktion der Hinterbliebenen. Sie übernehmen die Muster der akzeptierten Trauerkultur, die immer schon Inszenierungscharakter hatte.
Die Inszenierung im Internet wie auf Facebook und Instagram hat also auch unseren Tod erreicht.
Das Internet ist ein fester Bestandteil in unserem Leben. Das deutlichste Beispiel sind diejenigen, die mit Smartphone und Internet aufgewachsen sind, also Menschen unter 25 Jahren. Sie kochen mit ihrem Smartphone, sie verlieben sich mit dem Smartphone und sie pflegen ihre sozialen Kontakte fast überwiegend mit dem Smartphone. Dieser Generation zu sagen: Trauer darf nichts mit dem Internet zu tun haben, würde bedeuten, an der Lebensrealität vorbei zu argumentieren.
Wo glauben Sie, geht es hin mit der Trauerkultur?
Alle Zeichen stehen auf Individualisierung und den Rückblick auf die persönliche Lebensleistung. Menschen basteln sich ihre Privatkonfession. Es ist nämlich so: Je ungleicher eine Gesellschaft ist und je riskanter das Leben und die sozialen Sicherungssysteme sind, umso stolzer ist man auf das, was man selbst geschaffen hat. Im Trauerprozess wird genau das bilanziert. Heute gibt es kaum noch Berufe auf Grabsteinen – und wissen Sie, warum? Weil die Berufsbiografien immer brüchiger werden. Beruf ist nicht mehr Identität. Deshalb müssen neue Sinnzusammenhänge geschaffen werden, und die sind in zunehmendem Maße persönlich.
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