Friedenspreisträgerin Alexijewitsch: Rede von Swetlana Alexijewitsch

Die Dokumentation der Rede der weißrussische Autorin Swetlana Alexijewitsch zur Verleihung des Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Ich möchte Sie als „liebe Nachbarn in der Zeit“ ansprechen. Wir haben nicht nur die gleichen Smartphones in der Tasche, uns eint mehr – die gleichen Ängste und Illusionen, die gleichen Verlockungen und Enttäuschungen. Es erschreckt uns alle, dass das Böse immer raffinierter und unbegreiflicher wird. Wir können nicht mehr wie die Helden Tschechows ausrufen, in hundert Jahren würde der Himmel voller Diamanten und der Mensch wunderbar sein. Wir wissen nicht, wie der Mensch sein wird. In Dostojewskis „Legende vom Großinquisitor“ wird über die Freiheit gestritten. Darüber, dass der Weg der Freiheit schwer ist, qualvoll und tragisch...

„Warum zum Teufel müssen wir überhaupt erkennen, was gut und böse ist, wenn es uns so teuer zu stehen kommt?“

Der Mensch muss sich die ganze Zeit entscheiden: Freiheit oder Wohlstand und gutes Leben, Freiheit mit Leiden oder Glück ohne Freiheit. Die meisten Menschen gehen den zweiten Weg.

„Der Großinquisitor sagt zu Jesus, der auf die Erde zurückgekehrt ist: ‚Was bist Du gekommen, uns zu stören? Denn uns zu stören bist Du gekommen, und Du selbst weißt es wohl.‘ ‚Indem Du ihn [den Menschen] so hoch achtetest, hast Du gehandelt, als hättest Du kein Erbarmen mehr mit ihm, denn zuviel hast Du von ihm gefordert. [...] Hättest Du ihn geringer geachtet, hättest Du auch weniger von ihm gefordert, und das wäre der Liebe näher gekommen, hätte es doch sein Joch erleichtert.

Schwach ist der Mensch und gemein. [...] Was kann die schwache Seele dafür, dass sie nicht die Kraft hat, so furchtbare Gaben aufzunehmen?‘ ‚Es gibt für den Menschen, solange er frei ist, keine dauernde und bedrückendere Sorge als so bald wie möglich etwas zu finden, das er anbeten kann. [...] und keine quälendere Sorge, als jemanden zu finden, dem er so schnell wie möglich das Ge- schenk der Freiheit abtreten kann, mit der dieses beklagenswerte Geschöpf geboren wird.‘“

Ich habe den größten Teil meines Lebens in der Sowjetunion verbracht. Im kommunistischen Versuchslabor. Auf dem Tor des schrecklichen Lagers auf den Solowki-Inseln hing die Losung: „Mit eiserner Hand zwingen wir die Menschheit zum Glück“.

Der Kommunismus hatte einen aberwitzigen Plan – den alten Menschen, den alten Adam, umzumodeln. Und das ist gelungen. Es ist vielleicht das Einzige, was gelungen ist. In etwas über siebzig Jahren ist ein neuer Menschentyp entstanden: der Homo sovieticus. Die einen betrachten ihn als tragische Gestalt, die anderen nennen ihn „Sowok“. Wer aber ist er? Ich glaube, ich kenne diesen Menschen, er ist mir vertraut, ich habe viele Jahre Seite an Seite mit ihm gelebt. Er ist ich. Das sind meine Bekannten, meine Freunde, meine Eltern. Mein Vater, er ist vor kurzem gestorben, ist bis ans Ende seines Lebens Kommunist geblieben.

Ich habe fünf Bücher geschrieben, doch im Grunde schreibe ich nun seit fast vierzig Jahren an einem einzigen Buch. An einer russisch-sowjetischen Chronik: Revolution, Gulag, Krieg ... Tschernobyl ... der Untergang des „roten Imperiums“ ... Ich folgte der Sowjetzeit. Hinter uns liegen ein Meer von Blut und ein gewaltiges Brudergrab. In meinen Büchern erzählt der „kleine Mensch“ von sich.

Das Sandkorn der Geschichte. Er wird nie gefragt, er verschwindet spurlos, er nimmt seine Geheimnisse mit ins Grab. Ich gehe zu denen, die keine Stimme haben. Ich höre ihnen zu, höre sie an, belausche sie. Die Straße ist für mich ein Chor, eine Sinfonie. Es ist unendlich schade, wie vieles ins Nichts gesagt, geflüstert, geschrien wird. Nur einen kurzen Augenblick lang existiert.

Im Menschen und im menschlichen Leben gibt es vieles, worüber die Kunst nicht nur noch nie gesprochen hat, sondern wovon sie auch nichts ahnt. Das alles blitzt nur kurz auf und verschwindet, und heute verschwindet es besonders schnell. Unser Leben ist sehr schnell geworden. Flaubert sagte von sich, er sei „ein Mensch der Feder“, ich kann von mir sagen: Ich bin ein Mensch des Ohres.

Jeder von uns trägt ein Stück Geschichte in sich, der eine ein großes, der andere ein kleines, und aus all dem entsteht die große Geschichte. Die große Zeit. Ich suche den Menschen, der eine Erschütterung erlebt hat... durch die Begegnung mit dem Mysterium des Lebens, mit einem anderen Menschen. Manchmal werde ich gefragt: Reden die Leute wirklich so schön? Der Mensch spricht nie so schön wie in der Liebe und in der Nähe des Todes. Wir Menschen aus dem Sozialismus sind wie alle Menschen, und wir sind anders, wir haben unsere eigenen Vorstellungen von Helden und Märtyrern. Und ein besonderes Verhältnis zum Tod.

Stimmen... Stimmen... sie sind in mir... verfolgen mich...

Ich erinnere mich an einen hochgewachsenen schönen Greis, der noch Stalin gesehen hat. Was für uns ein Mythos war, war für ihn sein Leben. 1937 wurde zuerst seine Frau verhaftet, sie ging ins Theater und kam nicht zurück, und drei Tage später wurde auch er abgeholt.

„Sie schlugen mich mit einem Sack voll Sand auf den Bauch. Alles wurde aus mir herausgepresst wie aus einem zerquetschten Wurm. Sie hängten mich an Haken auf. Mittelalter! Alles läuft aus dir raus, du hast deinen Körper nicht mehr unter Kontrolle. Überall fließt es aus dir heraus... Diesen Schmerz auszuhalten... Diese Scham! Sterben ist leichter...“

1941 wurde er entlassen. Er hatte lange darum gekämpft, an die Front zu dürfen. Aus dem Krieg kam er mit Orden zurück. Er wurde ins Parteikomitee bestellt, und dort sagte man zu ihm: „Ihre Frau können wir Ihnen leider nicht zurückgeben, aber Ihr Parteibuch bekommen Sie zurück...“ „Und ich war glücklich!“, sagte er. Ich konnte seine Freude nicht verstehen.

„Man darf uns nicht nach den Gesetzen der Logik beurteilen. Verdammte Buchhalter! Verstehen Sie doch! Uns kann man nur nach den Gesetzen der Religion beurteilen. Des Glaubens!“

Oder eine andere Geschichte... „Ich hing sehr an unserer Tante Olja. Sie hatte lange Haare und eine schöne Stimme. Als ich erwachsen war, erfuhr ich, dass Tante Olja ihren leiblichen Bruder denunziert hatte, der dann im Lager umkam. In Kasachstan. Sie war schon alt, und ich fragte sie: ‚Tante Olja, warum hast du das getan?‘ ‚Wo hast du zur Stalin- zeit einen redlichen Menschen gesehen?‘ ‚Bereust du, was du getan hast?‘ ‚Ich war damals glücklich. Ich wurde geliebt.‘ Verstehen Sie, das Böse, das ist nie chemisch rein... Das sind nicht nur Stalin und Berija, das ist auch die schöne Tante Olja...“

Ich hörte diese Stimmen seit meiner Kindheit. In dem weißrussischen Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, lebten nach dem Krieg nur noch Frauen, sie arbeiteten von früh bis zum Dunkelwerden, am Abend aber graute ihnen vor ihren leeren Hütten, sie gingen hinaus auf die Straße, saßen auf Bänken zusammen. Und redeten über den Krieg, über Stalin, über ihren Kummer. Von ihnen hörte ich, dass der Krieg im Frühling und im Herbst am schlimmsten zu ertragen war, wenn die Vögel fortzogen oder wiederkehrten; sie wussten ja nichts von den Angelegenheiten der Menschen. Sie gerieten oft in Artilleriebeschuss. Zu Tausenden stürzten sie vom Himmel.

Die Frauen sprachen über Dinge, die ich mit meinem kindlichen Verstand nicht begriff, aber im Gedächtnis behielt. Wie ganze Dörfer mit allen Einwohnern niedergebrannt wurden. Wer weglaufen und sich in den Sümpfen verstecken konnte, kehrte nach einigen Tagen an einen leeren Ort zurück. Keine Menschenseele mehr, nur noch Asche. Und zwei zufällig im Kolchosgarten vergessene Pferde. „Wir dachten: Dass sich die Leute nicht schämen, so etwas vor Tieren zu tun! Die Pferde haben ihnen doch zugesehen...

Oder dies... Vor der Erschießung warfen junge SS- Soldaten Bonbons in die Grube, in der sie jüdische Kinder lebendig begruben...

Oder dies über Partisanen... Sie nahmen aus dem Ghetto geflohene Juden in ihre Abteilung auf. Die- se Partisanen kämpften tapfer gegen den Feind, in ihrer Freizeit aber vergewaltigten sie das „Jiddenmädchen“ Rosa. Dann wurde sie schwanger, und die Partisanen erschossen sie...

Bei Nietzsche heißt es: „Kultur ist nur ein dünnes Apfelhäutchen über dem glühenden Chaos.“ „Der Mensch ist fließend“, schrieb Tolstoi, alles hinge davon ab, was in ihm die Oberhand gewinne. Die Ideen sind schuld, aber auch der Mensch selbst ist schuld. Vor allem er selbst. Er trägt die Verantwortung für sein Leben. Erinnern Sie sich? „Wo hast du in der Stalinzeit einen redlichen Menschen gesehen?“, rechtfertigte sich die schöne Tante Olja vor ihrem Tod. Ungeheuerlich, unsagbar und unvorstellbar ist die „Banalität des Bösen“ in „finsteren Zeiten“.

Was ich auf der Straße hörte, konnte ich in den Büchern im Haus meiner Eltern, die beide Lehrer auf dem Land waren, nicht finden. Wie alle trug auch ich das Abzeichen mit dem lockenköpfigen Lenin als Kind. Ich träumte davon, Pionier zu wer- den und Komsomolzin. Ich bin diesen Weg bis ans Ende gegangen...

Erinnerungen sind ein launisches Ding. Da legt der Mensch alles hinein: Wie er gelebt, was er in der Zeitung gelesen und im Fernsehen gesehen hat, wem er in seinem Leben begegnet ist. Und ob er glücklich war oder nicht. Zeitzeugen sind weniger Zeugen, sie sind vielmehr Schauspieler und Geschichtenerfinder. Man kann sich der Realität nicht vollkommen annähern, zwischen der Realität und uns stehen unsere Gefühle. Ich weiß, dass ich es mit Versionen zu tun habe, jeder hat seine eigene Version, und daraus, aus ihrer Gesamtheit und ihrer Schnittmenge, entsteht das Bild der Zeit und der Menschen, die in ihr gelebt haben.

Genau dort, in der warmen menschlichen Stimme, in der lebendigen Widerspiegelung der Vergangenheit, verbirgt sich die ursprüngliche Freude und offenbart sich die unabwendbare Tragik des Lebens. Sein Chaos und seine Leidenschaft. Seine Einzigartigkeit und seine Unbegreiflichkeit. Alles ist echt.

Ich habe eine Geschichte des „häuslichen“, des „inneren“ Sozialismus geschrieben. Darüber, wie er in der menschlichen Seele aussah. Eine Ge- schichte der Gefühle: Was der Mensch über sich selbst gelernt, was er aus sich geschöpft hat. Die ganze Welt seines Lebens. Das Kleinste und Menschlichste. Meine Aufzeichnungen habe ich in Wohnungen und in Dorfhütten gemacht, auf der Straße, in Cafés und im Zug. Im Frieden und im Krieg. In Tschernobyl.

Stimmen... Stimmen... Die Gesichter verschwinden aus meiner Erinnerung, die Stimmen aber bleiben. Moskau. Tag des Sieges. Wir können uns noch immer nicht trennen von diesem Feiertag, denn ohne ihn bliebe nur der Gulag.

„Nach dem Gefecht gehst du über ein Feld, die Toten sind darüber verstreut wie Kartoffeln. Und schauen zum Himmel. Alle sind jung und schön. Sie tun dir leid, die einen wie die anderen. Töten ist unangenehm. Du willst überhaupt nicht töten.“

„Als der Krieg vorbei war, habe ich mich lange gescheut, zum Himmel zu blicken. So viele unserer jungen Männer waren gefallen! Nach dem Gefecht warfen wir die Toten in eine Grube und liefen weiter. Am nächsten Morgen wieder eine volle Grube. Wir marschierten von Grube zu Grube.“

Kabul 1988. Ein afghanisches Hospital. Eine junge Afghanin, ein Kind auf dem Arm. Ich gehe hin und reiche dem Kind einen Plüschteddy, und es nimmt ihn mit den Zähnen. „Warum nimmt er ihn mit den Zähnen?“, frage ich. Die Afghanin reißt die dünne Decke herunter, in die der Kleine eingewickelt ist, und ich sehe einen kleinen Rumpf ohne Arme und Beine. „Das haben deine Russen gemacht.“ „Sie versteht nicht“, erklärt mir ein sowjetischer Hauptmann, der daneben steht, „wir haben ihnen den Sozialismus gebracht.“ „Geh nach Hause und bau da den Sozialismus auf. Warum bist du hergekommen?“, sagt ein alter Afghane, ihm fehlt ein Bein. Ich erinnere mich an einen riesigen Saal – er war menschenleer... „Das haben deine Russen gemacht.“

In einer Kaserne. Verstörte Gesichter unserer Jungen, die nicht verstehen, wofür sie hier sterben. Sie antworten mir böse: Schießen oder nicht schießen, solche Fragen stellt man nach dem Krieg. Wenn du schießt, tötest du als Erster, tötest du nicht, wirst du getötet. Alle wollen nach Hause zurückkehren. Zu ihrer Mutter...

Manche wurden mit Wodka betrunken gemacht, in ein Flugzeug gesetzt, und in der Nacht waren sie in Kabul. Sie heulten, schrien, griffen die Offiziere an. Zwei brachten sich um. Erhängten sich auf der Toilette. Andere kamen freiwillig her. Kin- der von Dorfschullehrern, von Ärzten ... sie wurden dazu erzogen, der Heimat zu vertrauen...

In einem Jahr werden sie heimkehren, und die Heimat, die sie zum Morden geschickt hat, wird nicht mehr existieren. Das große kommunistische Experiment wird vor ihren Augen enden ...

Die Explosion in Tschernobyl... ich fuhr hin... auf dem Reaktorgelände liefen Männer mit Maschinenpistolen herum, standen einsatzbereite Militärhubschrauber. Niemand wusste, was tun, aber alle waren ohne zu zögern bereit zu sterben. Das haben wir gelernt.

Ich schrieb mit... das waren ganz neue Texte...

Die Feuerwehrleute, die in der ersten Nacht das Feuer bekämpft hatten, starben einer nach dem anderen. Ein Atomreaktor brannte, sie aber wurden gerufen wie zu einem ganz normalen Einsatz, sie hatten keine Schutzkleidung dabei. Sie bekamen Strahlendosen ab, die mehr als hundertfach über der Norm lagen. Tödliche Dosen. Die Ärzte ließen die weinenden Ehefrauen nicht zu ihnen.

„Nicht nahe rangehen! Nicht küssen! Nicht streicheln! Das ist nicht mehr der geliebte Mensch, das ist ein strahlenverseuchtes Objekt.“

In einem Umkreis von dreißig Kilometern um das Kraftwerk herum verließen Zigtausende Menschen ihre Häuser – für immer. Aber noch glaubte das niemand. Volle Busse und eine Stille wie auf einem Friedhof. Um die Busse drängten sich Hau- stiere – Hunde, Katzen. Die Tiere wurden zurück- gelassen. Die Menschen wagten nicht, ihnen in die Augen zu sehen.

„Die Vögel am Himmel ... die Tiere im Wald ... wir alle haben sie verraten. Unserem geliebten Hund Scharik haben wir einen Zettel dagelassen: ‚Verzeih uns, Scharik!‘“

Leiden ist unsere Gabe und unser Fluch. Der große Streit der russischen Literatur: Solschenizyn behauptete, Leiden mache den Menschen besser, aus dem Lager komme der Mensch zurück wie aus dem reinigenden Fegefeuer, Schalamow dagegen war überzeugt, dass die Lagererfahrung den Menschen verderbe, dass die Lagererfahrung nur im Lager gebraucht werde. Die Zeit hat gezeigt, dass Schalamow recht hatte. Der Mensch, den der Sozialismus hinterlassen hat, verstand sich nur auf das Leben im Lager.

Die 90er Jahre... alle redeten von der Freiheit... warteten auf ein Fest, doch das Land um sie herum war zerstört. Veraltete Betriebe wurden geschlossen, unzählige Militärstädtchen starben, es gab plötzlich Millionen Arbeitslose, die schlechten Wohnungen aber kosteten auf einmal Geld, eben- so medizinische Versorgung und Bildung. Alles lag in Trümmern...

Wir entdeckten, dass Freiheit nur auf der Straße ein Fest war, im Alltag aber war das etwas ganz anderes. Freiheit ist eine anspruchsvolle Pflanze, sie gedeiht nicht an jedem Ort, aus dem Nichts. Allein aus unseren Träumen und Illusionen.

Ich erinnere mich, wie erschüttert ich war, als ich im Gerichtssaal, wo der Prozess gegen mein Buch „Zinkjungen“ begann, ich war wegen Verleumdung der Sowjetarmee verklagt worden, die Mutter eines gefallenen Soldaten entdeckte. Das erste Mal waren wir uns am Sarg ihres Sohnes begegnet, er war ihr einziges Kind gewesen, sie hatte ihn allein großgezogen. Verzweifelt schlug sie mit dem Kopf auf den Sarg und flüsterte: „Wer liegt da drin? Bist du da drin, mein Junge? Der Sarg ist so klein, und du warst doch so groß. Wer ist da drin?“

Als sie mich sah, rief sie: „Erzähl die ganze Wahrheit! Sie haben ihn zur Armee geholt. Er ist Tischler, er hat für die Generale Datschen renoviert. Sie haben ihm nicht mal das Schießen beigebracht. Dann haben sie ihn in den Krieg geschickt, und dort wurde er gleich im ersten Monat getötet.“ Im Gerichtssaal fragte ich sie: „Warum sind Sie hier? Ich habe die Wahrheit geschrieben.“ „Ich brauche deine Wahrheit nicht! Ich will, dass mein Sohn ein Held war!“ Vor Gericht traf ich einen Granatwerferschützen wieder, der im Krieg erblindet ist... Der arme schreckliche „rote Mensch“!

Neue Stimmen fielen einander ins Wort ...

„Die Neunziger... wunderbare Jahre, das Beste, was ich je erlebt habe. Ein Schluck Freiheit...“

„Wenn es um die Neunziger geht... ich würde nicht sagen, dass das eine schöne Zeit war, sie war abscheulich. Eine Hundertachtzig-Grad- Wende in den Köpfen ... manche haben das nicht ausgehalten und wurden verrückt, andere haben sich umgebracht. Auf den Straßen wurde ständig geschossen. Unglaublich viele Menschen wurden ermordet. Jeden Tag gab es kriminelle Auseinandersetzungen. Sie teilten Russland unter sich auf... jeder wollte etwas an sich reißen, den anderen zuvorkommen..

Ich weiß sehr gut, was ein Traum ist. Meine ganze Kindheit lang wünschte ich mir ein Fahrrad, aber ich bekam keins. Wir waren arm. In der Schule habe ich unter der Hand mit Jeans gehandelt, am Institut mit sowjetischen Armeeuniformen und diversem Sowjetkram. Die Ausländer kauften das. Das war gewöhnlicher Schwarzhandel. Zu Sowjetzeiten bekam man dafür zwischen drei und fünf Jahren Gefängnis. Mein Vater rannte mit dem Riemen hinter mir her und schrie: ‚Du Spekulant! Ich habe vor Moskau Blut vergossen, und mein Sohn macht solche Scheiße!‘

Was gestern noch als Verbrechen gegolten hatte, war nun ein Geschäft. Ich kaufte an einem Ort Nägel und woanders Absatzflicken, packte das zusammen in eine Plastiktüte und verkaufte es als neue Ware. Ich brachte Geld nach Hause und kaufte ein, der Kühlschrank war immer voll. Meine Eltern rechneten dauernd damit, dass man mich verhaften würde. (Er lacht laut.) Ich handelte mit Haushaltswaren. Mit Schnellkochtöpfen und Dampfgarern. Einen ganzen Autoanhänger mit dem Zeug hab ich aus Deutschland hergeschafft. Das ging haufenweise weg...

In meinem Zimmer stand ein alter Computerkar- ton voller Geld, nur so war das Geld für mich real. Du nimmst immer wieder Geld aus dem Karton, und es wird nicht alle. Ich hatte mir im Grunde schon alles gekauft: ein Auto, eine Wohnung... eine Rolex... ich erinnere mich an diesen Rausch ... du kannst dir alle deine Wünsche erfüllen, alle deine geheimen Phantasien. Ich habe viel über mich selbst erfahren: erstens, dass ich keinen Geschmack habe, und zweitens, dass ich Komplexe habe. Ich kann nicht mit Geld umgehen. Ich wusste nicht, dass viel Geld arbeiten muss, dass es nicht einfach so rumliegen darf. Geld ist für den Menschen genauso eine Versuchung wie Macht oder die Liebe... ich träumte... und fuhr nach Monaco. Im Casino von Monte Carlo verspielte ich viel Geld, sehr viel. Ich konnte nicht aufhören... ich war ein Sklave meines Kartons. Ist noch Geld drin oder nicht? Wie viel?

Es musste immer mehr und mehr sein. Ich interessierte mich für nichts mehr, wofür ich mich früher interessiert hatte. Politik... Kundgebungen... Sacharow war gestorben. Ich ging mit zum Abschiednehmen. Hundert- tausende Menschen... alle weinten, auch ich weinte. Und jetzt stand kürzlich über ihn in einer Zeitung: ‚Ein großer Narr Russlands ist gestorben.‘ Da dachte ich: Er ist zur rechten Zeit gestorben. Als Solschenizyn aus Amerika zurückkam, haben sich alle auf ihn gestürzt. Aber er verstand uns nicht, und wir verstanden ihn nicht. Ein Ausländer. Er wollte zurück nach Russland, aber draußen war Chicago...

Was ich ohne die Perestroika heute wäre? Ein kleiner Ingenieur mit lächerlichem Gehalt... (Er lacht.) Und jetzt habe ich meine eigene Augenklinik. Mehrere Hundert Menschen mitsamt ihren Familien, ihren Großmüttern und Großvätern sind von mir abhängig. Leute wie Sie wühlen in ihrem Inneren herum, reflektieren – ich habe dieses Problem nicht. Ich arbeite Tag und Nacht. Ich habe brandneue Ausrüstungen gekauft und meine Chirurgen zum Praktikum nach Frankreich geschickt. Aber ich bin kein Altruist, ich verdiene gut. Ich habe alles selbst erreicht ... ich hatte nur dreihundert Dollar in der Tasche ...

Angefangen habe ich mit Partnern, bei deren An- blick Sie in Ohnmacht fallen würden, wenn die jetzt hier reinkämen. Gorillas! Grimmiger Blick! Die sind nicht mehr da, sie sind verschwunden wie die Dinosaurier. Ich bin mit einer kugelsicheren Weste rumgelaufen, auf mich wurde auch schon geschossen. Wenn jemand schlechtere

Wurst isst als ich, kümmert mich das nicht. Ihr habt den Kapitalismus doch alle gewollt. Habt davon geträumt! Also schreit jetzt nicht, dass man euch betrogen hat ...“

Es gibt wenige Gewinner, aber viele Verlierer. Und zwanzig Jahre danach lesen die jungen Leute wieder Marx. Wir hatten gedacht, der Kommunismus sei tot, aber diese Krankheit ist chronisch. In den Küchen werden noch immer die gleichen Gespräche geführt: Was tun und wer ist schuld? Da wird von einer eigenen Revolution geträumt. Umfragen zufolge sind die Menschen für Stalin, für eine „starke Hand“ und für den Sozialismus. Das Ende des „roten Menschen“ ist aufgeschoben. Ein alter KGB-Mann erklärte mir gegenüber im Zug ganz offen: „Ohne Stalin geht bei uns nichts. Was ist der Mensch? Ramm ihm ein Stuhlbein in den Hintern, und er ist kein Mensch mehr. Nur noch physisch. Ha-ha.“ Das hatte ich schon mal gehört...

Alles wiederholt sich... in Russland... in meinem kleinen Weißrussland gehen Tausende junge Leute erneut auf die Straße. Sitzen im Gefängnis. Und reden über die Freiheit.Vor der Revolution von 1917 schrieb der russische Schriftsteller Alexander Grin: „Die Zukunft ist nicht mehr an ihrem Platz.“ Auch jetzt ist die Zukunft nicht mehr an ihrem Platz ... Manchmal frage ich mich, warum ich immer wieder in die Hölle hinabgestiegen bin. Um den Menschen zu finden...

Zum Schluss möchte ich den Mitgliedern der Jury für die hohe, mir erwiesene Ehre danken. Danken möchte ich auch dem deutschen und dem schwedischen PEN-Zentrum und den französischen Schriftstellern, die mich in einer schwierigen Situation unterstützt haben, als ich aus politischen Gründen meine Heimat verlassen musste. Mein Dank gilt auch meiner langjährigen Verlegerin Elisabeth Ruge, die mich seit Jahrzehnten begleitet, und meiner Agentin Galina Dursthoff.

Ich danke allen meinen Helden, die ihr Geheimnis mit mir geteilt, mir ihr Leben erzählt haben. Viele von ihnen leben nicht mehr. Aber ihre Stimmen bleiben. Ich danke Ihnen allen.

Aus dem Russischen übersetzt von Ganna Maria Braungardt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.