Freispruch nach Anti-Nazi-Blockade: Berliner Antifa-Aktivist bleibt frei
Er soll 2011 zum Durchbruch einer Polizeikette aufgerufen haben. Jetzt wird der nicht vorbestrafte Familienvater Tim H. freigesprochen.
Nach nur 48 Minuten Verhandlungsdauer verwarf das Oberlandesgericht am Montag die Revision gegen den vierzigjährigen Tim H. Es war das vierte Verfahren, in dem sich der Mitarbeiter der Bundesgeschäftsstelle der Linken wegen Landfriedensbruchs und angeblicher Rädelsführerschaft bei den Krawallen um den Naziaufmarsch in Dresden im Februar 2011 verantworten musste. Nun ist er endgültig rehabilitiert.
Der Missbrauch des Dresdner Zerstörungsgedenkens durch Tausende Rechte aus ganz Europa provozierte seit 2008 auch massive Gegendemonstrationen. Die Verwüstungen vom 19. Februar 2011 durch Linksautonome waren erheblich, beförderten aber auch einen Konsens in der Stadt, die über den Umgang mit den Rechten zerstritten war. In den Folgejahren gelang nach und nach eine Marginalisierung der Nazi-Kundgebungen.
Tim H. wurde vorgeworfen, per Megafon zum Durchbruch einer Polizeisperre aufgefordert und dabei einen Beamten als „Nazischwein“ beschimpft zu haben. Sein angeblicher Ruf „Kommt nach vorn“ wurde zum Motto einer Solidaritätsbewegung. Im Januar 2013 verurteilte das Amtsgericht Dresden den vermeintlichen Rädelsführer wegen schweren Landfriedensbruchs zu einer Haftstrafe von einem Jahr und zehn Monaten ohne Bewährung. Überregionale Proteste und eine Berufung sowohl seitens der Staatsanwaltschaft als auch der Verteidigung waren die Folge, die im Januar 2015 am Landgericht verhandelt wurde.
Keine Schuldbeweise
Der Angeklagte wurde damals vom Vorwurf des Landfriedensbruchs freigesprochen, sollte aber 90 Tagessätze zu 45 Euro Geldstrafe wegen Beamtenbeleidigung zahlen. Eine wesentliche Rolle bei der Urteilsfindung spielte die Würdigung der teils willkürlich zusammengeschnittenen Polizeivideos, die Verteidiger Sven Richwin als „manipuliert“ bezeichnete. Auf den Filmen waren mehrere Menschen mit Megafonen zu erkennen, Rufe nicht eindeutig zuzuordnen. Offenbar fiel Tim H. wegen seiner Körpergröße besonders auf.
Die Staatsanwaltschaft aber legte hartnäckig erneut Revision ein und gewinnt. In der nächsten Runde aber wird Tim H. im Januar 2017 erneut freigesprochen. Videos, ein Stimmgutachten und Zeugen können wiederum keine Schuldbeweise erbringen. Auch die Geldstrafe wegen Beleidigung wird fallen gelassen, weil der Strafantrag des Düsseldorfer Polizeipräsidiums, dem die eingesetzten Polizisten unterstellt waren, 2011 nicht fristgerecht einging.
Wenn man am Montag den Staatsanwalt Henke erlebte, fragt man sich, warum die sächsische Generalstaatsanwaltschaft sich auch mit diesem Urteil nicht abfinden wollte. Nach sechs Jahren ist es das letzte schwebende Verfahren gegen mögliche Gewalttäter von 2011, von denen nur sehr wenige bestraft werden konnten. Spektakulär scheiterte der Prozess gegen den Jenaer Jugendpfarrer Lothar König wegen ähnlicher Vorwürfe. Das Verfahren gegen Tim H. erregte auch deshalb Aufsehen, weil er in der Bundesgeschäftsstelle der Linken arbeitet. Der Senat des Oberlandesgerichtes machte nun im wahrsten Wortsinn kurzen Prozess.
Schon in einem Schreiben an die Staatsanwaltschaft hatte der Vorsitzende Werner Stotz angedeutet, was er in der Urteilsbegründung wiederholte. Das Landgerichtsurteil aus dem Vorjahr sei „geradezu mustergültig“, Rechtsfehler nicht feststellbar, und Zweifel dürften nicht zulasten des Angeklagten gehen. Tim H. bedankte sich gegenüber der taz bei Unterstützern und Spendern, die rund 10.000 Euro Verfahrenskosten auffingen. Von einer Vorverurteilung, davon, „dass immer etwas hängen bleibt“, habe er glücklicherweise nichts gespürt. Den Ehrgeiz der Dresdner Staatsanwaltschaft bezeichnete er als „politisches Manöver“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid