Freier Handel in der Europäischen Union: Wem's schon gut geht, der profitiert
Der EU-Binnenmarkt ist ein wirtschaftlicher Erfolg, so eine Studie der Bertelsmann Stiftung. Attac fragt: für wen? Vielen Deutschen gehe es schlechter.
BERLIN taz/dpa | Dänemark und Deutschland haben ihn mit gegründet – jetzt sind sie die Länder, die seit Bestehen des EU-Binnenmarktes am meisten davon profitiert haben. Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung ließ das Zusammenwachsen Europas das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Deutschland zwischen 1992 und 2012 in jedem Jahr um durchschnittlich 37 Milliarden Euro steigen.
Das entspreche einem jährlichen Einkommensgewinn von 450 Euro pro Einwohnerwohner, heißt es in der am Montag veröffentlichten Untersuchung. Nur Dänemark hat danach mit 500 Euro pro Kopf höhere Zuwächse erzielt.
Untersucht wurde die Entwicklung von 14 der 15 Gründungsstaaten (außer Luxemburg). Die europäische Integration habe sich auf alle Gründungsländer positiv ausgewirkt, allerdings mit starken Unterschieden, heißt es in der Studie. Der EU-Binnenmarkt habe besonders jenen Ländern geholfen, die wirtschaftlich sehr eng mit anderen Staaten des Binnenmarkts verflochten seien.
So hatten die südlichen EU-Länder deutlich geringere Einkommenszuwächse als Dänemark, Deutschland oder Österreich (280 Euro pro Kopf und Jahr). Italien erreiche nur 80, Spanien und Griechenland je 70 und Portugal 20 Euro pro Einwohner und Jahr.
Die Krise hat Griechenland zum Sonderfall werden lassen: „Werden lediglich die Werte der Jahre 1992 und 2012 miteinander verglichen, so können alle Länder außer Griechenland dank der europäischen Integration höhere Pro-Kopf-Einkommen erzielen“, heißt es in der Studie.
Der EU-Binnemarkt bringt nicht nur Wohlstand
Das sei alles schön und gut, aber noch lange kein Grund, die EU und ihre Handelszone zu feiern, meint Alexis Passadakis von Attac. Zwar zweifelt der Experte für EU-Politik nicht an den Berechnungen der Autoren. Allerdings stellt sich für ihn die grundsätzliche Frage, wer genau von den Einkommensgewinnen profitiere. Freihandelszonen wie die EU ziehen nämlich vor allem eines nach sich, so Passadakis, „schärfere soziale und geografische Spaltungen zwischen den Mitgliedsländern und ihrer Bevölkerung.“
In Deutschland etwa habe in den vergangenen zehn Jahren die Kluft zwischen Arm und Reich „massiv zugenommen – trotz der Einkommensgewinne“. 15,2 Prozent der Deutschen lebten in Armut, jeder zehnte habe sich überschuldet.Das sei auch dem EU-Binnenmarkt zuzuschreiben, sagt Passadakis. „Denn der erhöhte Wettbewerb zwischen den Ländern hat großen Druck auf Löhne und soziale Sicherungssysteme ausgeübt.“
Vor diesem Hintergrund erscheine nicht nur der freie Handel in der EU in einem weniger rosigen Licht. Man könne auch davon ausgehen, so Passadakis, dass die Einkommensgewinne in erster Linie den Menschen zugeflossen seien, „die wirtschaftlich sowieso schon gut gestellt sind und zu den oberen Einkommensschichten gehören."
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