piwik no script img

Freie Szene Berlins präsentiert sichDie ganze Stadt ist eine Bühne

Ein basisdemokratischer Reigen, eine große Branchenschau der freien Szene – noch bis Sonntag dauert das Performing Arts Festival.

Performance beim Möbelmarkt: die elektroschuhe beim Performing Arts Festival mit „I am reality“ Foto: Nina Berfelde

Ein warmer Juninachmittag vor dem Poco-Möbelmarkt am Halleschen Ufer. Menschen kommen heraus, die zusammengerollte Teppiche, Garderobenständer und originalverpackte Fritteusen nach Hause tragen. Die meisten haben es eilig, doch manche unterbrechen ihr emsiges Streben für ein Weilchen, um Teil der kleinen Zuschauermenge zu werden, die sich locker am Wegesrand gebildet hat.

Ein Paar ist nämlich gerade dabei, sich auf dem an dieser Stelle überbreiten Bürgersteig unter großem körperlichem Einsatz gegenseitig zu zerfleischen – sich, aber vor allem eine Matratze, die die beiden mitführen. Das Ganze hatte begonnen wie ein Stück Straßentheater, bei dem man nicht sicher sein kann, ob man gerade Zeuge einer privaten Szene dramatischen Charakters wird oder doch eines künstlerischen Events.

Die Frau, im weißen Brautkleid, hatte leicht irre Stunts mit dem Matratzenrequisit angestellt. Der Mann, Hipsterbart und dunkler Bräutigamsanzug, hatte sie auch noch provoziert. Zwischenzeitlich liegt sie, nach einem tollkühnen Überschlag, unter der Doppelmatratze und rührt sich derart lange nicht mehr, dass eine junge Zuschauerin sich irgendwann vom Rand der Menge löst und besorgt unter die Plastikplane blickt, in welche die Matratze immer noch eingewickelt ist. „Alles klar“, sagt sie zu ihrem Freund, als sie zurückkommt, „sie atmet noch.“

Das raumgreifend streitende Paar heißt mit bürgerlichen Namen Ini Dill und Daniel Drabek. Als die elektroschuhe zerpflücken sie derzeit täglich zweimal ihre Matratze für geneigtes Publikum. Ihre Darbietung ist Teil des Performing Arts Festivals, das dieses Jahr zum zweiten Mal stattfindet und noch bis einschließlich Sonntag andauert.

Telefonbuchdickes Programm

Das Wochenprogramm des Festivals ist so dick wie (einst) das Telefonbuch einer beliebigen deutschen Kleinstadt. Das liegt zu einem Teil daran, dass es zweisprachig gehalten ist, zum anderen hat es seinen Grund darin – eine weitere Gemeinsamkeit mit dem Telefonbuch –, dass das Selbstverständnis des Festivals radikal basisdemokratisch ist.

Spielplatz der freien Szene

Mehr als 120 künstlerische Beiträge an über 60 Spielstätten und Aufführungsorten, das sind die Schlagzahlen vom Performing Arts Festival, mit der sich die freie Szene Berlins zum zweiten Mal in einem gemeinsamen Festival präsentiert.

Noch bis einschließlich Sonntag kann man auf den Bühnen oder im öffentlichen Raum seine Entdeckungen machen, teilweise ist der Eintritt frei. Die „I am reality“-Performance von die elektroschuhe vor dem Poco-Möbelmarkt ist bis Sonntag jeweils um 17 und 18 Uhr zu sehen, eintauchen in die Müllermatrix kann man im HAU 2 ab 16 Uhr. Programm und Information: www.performingarts-festival.de

Der Grundgedanke lautet, etwas vereinfacht gefasst: Alle können mitmachen. Wer in Berlin im performativen Bereich professionell tätig ist, hat im Rahmen des knapp einwöchigen Festivals die einmalige Gelegenheit, sich in einem Rahmen zu präsentieren, der auch den abgelegeneren Spielstätten deutlich mehr Öffentlichkeit verschafft, als es im Normalbetrieb der rauschenden Großstadt der Fall ist.

Das Performing Arts Festival ist eine große Branchenschau der freien Szene. Das toll layoutete, sehr übersichtliche Programmbuch und die aufwendige Website sind in diesem Sinne sehr darum bemüht, Orientierungshilfen durch die Vielzahl der Veranstaltungen zu geben. Dieses Jahr haben die Veranstalter sich „Wanderungen“ beziehungsweise „Touren“ ausgedacht, die im Programm je kurz kommentiert sind und täglich mehrere Veranstaltungen umfassen, die bequem nachein­ander absolviert werden können. Sogar mit welchem Verkehrsmittel – falls nicht zu Fuß – die Strecken zwischen den Veranstaltungsorten am besten zurückgelegt werden sollten, ist vorab mit bedacht worden.

Ein Treffen mkt Heiner Müller

Auch der Ehezwist am Möbelmarkt bildet an diesem Mittwochnachmittag den Startpunkt für eine solche Tour. Von dort ist es nämlich nur ein Katzensprung ins HAU, in dem an allen Festivaltagen die „Müllermatrix“ des Teams Interrobang läuft, eine interaktive Installation mit Heiner Müller als Sprecher, erstellt aus den zahlreichen Audiozeugnissen, die der Großdichter hinterlassen hat.

Wir dürfen an kleinen, mit einem Telefon ausgestatteten Tischen teilnehmen: die Verbindung zur Matrix, in der Herr Müller lebt. Um seinen Redefluss zu steuern, muss man die Knöpfe des Telefons drücken und kann ihn dann Sachen sagen hören wie „Als Ausbeuter ist der Mensch geboren, du auch“ oder „Das einzige Territorium, was mich interessiert, bin ich“. Wenn er seine Gedanken zu Ende geführt hat, sagt er meist „Stimmst du mir zu, dann wähl die Eins. Stimmst du mir nicht zu, dann wähl die Null“. Ich drücke Null, er sagt: „Du weißt zu wenig.“ Kurz darauf will er eine Zigarrenpause. Doch noch bevor er seine Davidoff rauchen kann, fällt der Installation der Strom aus, und im Theater gibt es Feueralarm.

Dadurch bleibt reichlich Zeit, sich quer durch die Stadt flanierend zum nächsten und letzten Spielort der Tour zu begeben. Im kleinen Theater des Acud in Mitte gibt die Schauspielerin Lena Binski ihr stumm gespieltes Stück „Die 7 Leben des Fräuleins B.“. Leider ist es die einzige Vorstellung der Produktion während der Dauer des Festivals. Denn Binskis pantomimische Darstellung einer lebensmüden Lebedame in Kostüm und Maske eines Stummfilmstars ist nicht nur ein wohltuender Kontrapunkt zur gesprächigen Matrix von vorher, sondern überhaupt eine charmante kleine Performance-Perle, die man gern weiterempfehlen würde – und über die man ohne dieses Festival wohl nicht so ohne Weiteres gestolpert wäre.

Aber es ist zu vermuten, dass es im reichhaltigen Festival-Angebot auch noch andere Perlen zu entdecken gibt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!