piwik no script img

Frauenkörper in der ForschungFehlender Respekt

Die Medizingeschichte zeigt: Immer wieder wurden die Menschen hinter den Körpern vergessen. Dabei sind sie so viel mehr als Versuchsmaterial.

Henrietta Lacks wurde nie gefragt, ob sie ihre Zellen spenden möchte Foto: The Lacks Family/ap

E in französischer Arzt wollte die Röntgenaufnahmen von einer Bataclan-Überlebenden als digitale Kunst versteigern. Die Bilder der jungen Frau, die beim Terrorangriff 2017 ihren Freund verloren hatte, zeigen „eine offene Fraktur des linken Unterarms mit einer verbliebenen Kalaschnikowkugel im Weichgewebe“, wie der Arzt dazu schrieb. Die Frau selbst war nicht informiert.

Das Röntgenbild sollte als sogenannter NFT versteigert werden. Das steht für Non-Fungible Token – und meint digitale Kunst, die unkopierbar ist. Der Arzt gab an, er habe „pädagogische Beweggründe“. Startpreis waren 2.776 Dollar (2.446 Euro).

Was der Mann mit „pädagogisch“ meinte, wurde nicht berichtet. An die Wucht von Terror erinnern? Über Knochenbrüche aufklären? Die Aktion passt in jedem Fall zur Medizingeschichte allgemein. Die betrachtete schon immer menschliche Körper vor allem als etwas, das man sich nimmt, vermisst und ausstellt, und weniger die Menschen dahinter. Vor allem wenn diese nicht weiß, hetero, cis, abled bodied, männlich waren. Recht am eigenen Körper? Pa­ti­en­t:in­nen gehen jedenfalls in ihren verletzlichsten Momenten nicht deshalb in ärztliche Behandlung, damit sich an ihnen bereichert wird.

Ihre Zellen schrieben Geschichte

Der vielleicht bekannteste Fall in dieser Hinsicht ist der der Afroamerikanerin Henrietta Lacks, deren Gewebeproben dazu führten, dass die erste unsterbliche menschliche Zelllinie kultiviert wurde – die HeLa-Zellen, von der wir alle noch heute profitieren. Einverstanden war Lacks mit der Forschung an ihrem Gewebe nicht. Sie wurde nicht informiert.

Lacks war im Jahr 1951 wegen Unterleibsblutungen in das Johns Hopkins Hospital gegangen, es war das einzige Krankenhaus in der Umgebung, das Schwarze Personen kostenlos behandelte. Lacks hatte Krebs, sie starb noch im selben Jahr – und erfuhr nie etwas von dem Gewinn, den Unternehmen und Forschung durch ihre Zellen machten.

Auch ihre Familie hatte erst keine Ahnung, Geld bekam sie lange nicht. Bis heute sind etwa 50 Tonnen HeLa-Zellen gezüchtet worden, vier Forschungen, die mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden, nutzten die Zelllinie. Soumya Swaminathan, leitende Wissenschaftlerin der WHO, sagte erst vergangenes Jahr: „Ich kann mir keine andere Einzelzelllinie oder kein Laborreagenz vorstellen, das in diesem Umfang verwendet wurde und zu so vielen Fortschritten geführt hat.“

Erst durch die Gründung der Stiftung Henrietta Lacks Foundation vor zehn Jahren hat Lacks’ Familie eine Krankenversicherung. Zuletzt reichten ihre Nachkommen Klage ein gegen das Unternehmen Thermo Fisher Scientific, weil es ohne die Zustimmung Lacks’ von der HeLa-Zelllinie profitiert hatte. Sie fordern „den vollen Betrag der Nettogewinne“. Maximalforderung, aber richtig so!

Wegen des NFTs der Bataclan-Überlebenden hat sich der französische Arzt immerhin entschuldigt, das NFT wurde von der Plattform genommen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Nicole Opitz
Redakteurin
Seit 2019 bei der taz. Interessiert sich vor allem für Feminismus, Gesundheit & soziale Ungleichheit. BVHK-Journalismuspreis 2023.
Mehr zum Thema

0 Kommentare