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Archiv-Artikel

Frau und Hund

Abnutzungserscheinungen: Monika Maron beschreibt bissig tatsächliches Unglück und mögliches Glück in der Generation 50+

VON MARION LÜHE

Es beginnt mit einem ausgesetzten Hund, den Johanna Märtin an einem Autobahnparkplatz findet. Kurzentschlossen nimmt sie ihn mit nach Hause. Sie kauft ihm ein Halsband und nennt ihn Bredow. Ihren skeptischen Ehemann Achim lässt sie erst gar nicht zu Wort kommen, als ahnte sie bereits, dass der Hundefund sie aus der Endlosschleife ihres Alltags hinauskatapultieren wird. In Monika Marons neuem Roman „Ach Glück“ hört die ostdeutsche Biografin Johanna Märtin nach jahrzehntelanger Schreibtischarbeit von einem Tag auf den anderen auf, in fremden Lebensläufen zu wühlen. Stattdessen widmet sie sich ihrem eigenen. Zunächst zögernd, dann entschiedener. Und eben: mit Hund.

Mit Bredow an der Leine nimmt die Mittfünfzigerin die alte Gewohnheit des nächtlichen Spaziergangs durch die menschenleere Stadt wieder auf. Sie schläft mit dem jüngeren russischen Galeriebesitzer Igor – der erste Seitensprung in dreißig Jahre Ehe. Sie übernimmt einen Aushilfsjob in seiner Galerie. Und fliegt schließlich nach Mexiko, um Igors entfernte Bekannte Natalia Timofejewna, eine alte russische Fürstin, zu treffen, die sie bislang nur aus Briefen kennt.

Eine Wie-soll-ich-mein-Leben-ändern-Geschichte also. Der dreizehnstündige Flug bietet Johanna, einer alten Bekannten aus Monika Marons vorangegangenem Roman „Endmoränen“, Gelegenheit, über ihr Leben nachzudenken. Allmählich fügen sich ihre Erinnerungen zu einer Biografie, die in deprimierenden Ritualen und einem freudlosen Ehealltag steckenblieb. Seitdem die DDR unterging und kein Staat mehr da ist, gegen den aufzubegehren dem Leben einen Sinn verliehe, verlaufen ihre Tage in albtraumhafter Gleichförmigkeit. Der Blick in die Zukunft offenbart nichts als Zeit, „nur öde, steppenähnliche Zeit, die sie zu durchqueren hatte“. An die Verheißungen des Glücks glaubt Johanna längst nicht mehr, bis – ja bis eben der Hund auftaucht. Der Hund als Verkörperung des Wilden, Kreatürlichen hat etwas in ihr Leben zurückgebracht, das sie verloren glaubte: die Fähigkeit, „in jedem Augenblick Freude zu empfinden“ und sich selbst als Sinn zu genügen. In einem Zustand sich steigernder Verzückung registriert Johanna jede Regung in Bredows Gesicht, das Zucken seiner Ohren, das Klopfen seiner Schwanzspitze auf dem Parkettfußboden ihrer Wohnung.

Ehe jedoch der Roman in ein kitschiges Frauchen-Hund-Idyll abzustürzen droht, kommt Achim zu Wort, der sich vor vollgesabberten Plastikbällen ekelt und den Hund als Kampfansage versteht. Auf seinem ziellosen Streifzug durch Berlins Mitte versucht der weltabgewandte Intellektuelle und Kleistforscher die Ursache für den Ausbruch seiner Frau zu ergründen. War es der Russe, der Hund, oder war es seine eigene sechs Jahre zurückliegende Affäre, die ihn erstmals selbst erleben ließ, was er bis dahin nur aus der Literatur kannte? War es die ironisch-gelassene Überheblichkeit, mit der er ihre unbestimmte Sehnsucht als weibliche Alterserscheinung abtat? Bei einem Abendessen unter Universitätsgermanisten, das Maron, nebenbei bemerkt, zu einer glänzenden Milieustudie nutzt, spürt Achim schmerzlich den Verlust. Mit Johanna ist ihm die einzige Verbündete in einer, wie er findet, lächerlichen und peinlichen Umwelt abhandengekommen.

Aus wechselnder Perspektive beider Ehepartner rekonstruiert Monika Maron, Spezialistin für Identitätssuche und -verlust, zwei Lebensläufe, die sich eine Zeit lang überschneiden, um schließlich wieder auseinanderzudriften. Mit scharfer Beobachtungsgabe beschreibt sie eine Langzeitbeziehung mit all ihren kommunikativen und erotischen Abnutzungserscheinungen, den Missverständnissen und unterschwelligen Vorwürfen, die jedes noch so harmlose Gespräch begleiten. Als „Fremde im eigenen Leben“ bezeichnet Johanna einmal Natalia Timofejewna, die nach ihrer Heirat mit einem deutsche Kommunisten zur derben Proletarierfrau mutierte – und meint damit auch sich selbst. Erst nach dem Tod ihres Mannes fand die Aristokratin zu ihrer wahren Bestimmung und Lebensweise zurück. Das Alter, im vergleichsweise düsteren Roman „Endmoränen“ noch unausweichlicher Fluch, birgt aus dieser Sicht eine Chance; es muss ja nicht gleich ein so düsterer Grund wie der Tod eines nahen Menschen sein, um wieder Bewegung in sein Leben zu bekommen. Es bedarf nur eines Anlasses – und sei es ein dahergelaufener Hund –, um aus den gewohnten Rollen und Lebensmustern kollektiven Alterns auszubrechen.

Gegen solche Glücksversprechungen ist der Misanthrop Achim von Natur aus gefeit. „Wer hat schon das Leben, das er sich wünscht?“, fragt er seine Frau einmal und merkt nicht, welche Verletzung er ihr damit zufügt. Leidenschaft ist für ihn eine Frage der Hormone, von seiner Amour fou mit einer Jüngeren ist nichts als eine leichte Irritation geblieben. Am Ende, das deutet Maron auf subtile, unsentimentale Weise an, spürt auch Achim eine Ahnung dessen, was Liebe sein könnte, wenn der Gefühlsrausch erst einmal vorbei ist. Wer da nun eine Art literarische Anleitung zum Glücklichsein für die Generation 50+ vermutet, sieht sich getäuscht. „Ach Glück“, der lakonische Titel drückt es gut aus, ist viel zu bissig und schonungslos, um als Ratgeber für ein erfülltes (Senioren-)Leben zu taugen. Dass Liebe dazu gehört, daran immerhin lässt das Buch keinen Zweifel. Selbst wenn sie auf den Hund gekommen ist.

Monika Maron: „Ach Glück“. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2007, 218 Seiten, 18,90 Euro