Franz-Jung-Revue im HAU2: Der Torpedokäfer ist zurück
Schreiend gelingt es Robert Stadlober und den Sternen, ihn zum Leben zu erwecken: Franz Jung, einen in jeder Hinsicht unorthodoxen Schriftsteller.
Der Torpedokäfer ist patronengroß und an beiden Seiten gepanzert. Die Fühler sind extrem kurz. Ist er endlich in der Luft, beschleunigt der Käfer rasant seinen Flug, um dann gegen das Ziel zu prallen und abzustürzen. Immer wieder kehrt diese Spezies zum Ausgangspunkt zurück, um es wieder zu versuchen. „Und fällt und kriecht und fliegt und fällt“, schreibt Franz Jung und bringt mit diesem poetischen Insekt sein Leben auf den Punkt, das 1888 im oberschlesischen Neiße begann und 1963 in Stuttgart endete.
Dazwischen steht ein Menschenleben, das sich den Zeitläufen hingibt, gleichzeitig widerständig bleibt und schonungslos dokumentiert. Jungs Vermächtnis umfasst 14 voluminöse Bände, neu aufgelegt im Nautilus Verlag. Jung war Literat, Journalist und hat als Kommunist gerne laut über basisdemokratische Strukturen nachgedacht. „Die Revolution kommt von innen“, schreibt er Anfang der 1920er Jahre in „Die Technik des Glücks“ und positioniert sich so abseits des Mainstreams.
Hanna Mittelstädt hat 45 Jahre lang den Hamburger Nautilus Verlag geleitet, zeichnete so verantwortlich für die Franz-Jung-Werkausgabe und hatte die Idee zu „Die Technik des Glücks – eine Franz-Jung-Revue“. Sie fand in der Schriftstellerin Annett Gröschner eine engagierte Mitstreiterin. Gröschner hatte sich schon in den 1990er Jahren mit Jungs Sohn Peter auf Spurensuche gemacht. Rosmarie Vogtenhuber übernahm die Regie.
Im HAU2 schreit Robert Stadlober wie ein Getriebener Biografisches ins Mikrofon, unterstützt vom harten, schnellen Rhythmus von Schlagzeug, Gitarre Bass, und Synthesizer (Musik von der Hamburger Band Die Sterne). Kurze Spots auf einen Lebensweg, der so viele Brüche aufweist, dass er eine Epoche exemplarisch beleuchtet und doch radikal individuell bleibt.
Stadlober hat die Präsenz
Immer wieder zitiert Stadlober aus den autobiografischen Schriften und erzeugt dabei mit seiner Stimme und seinem Körper, der bis in die letzte Faser gespannt ist, einen Nuancenreichtum und einen Energiestrom, der überwältigt. Sprechgesang wechselt sich ab mit in fast schmerzlicher Stille vorgetragenen Textpassagen – Bekenntnisse eines Menschen, der vor Selbstkritik nicht zurückschreckte.
Stadlober hat die Präsenz, auf der fast leeren Bühne des HAU2 zu stehen und sie auszufüllen: Franz Jung wird so gegenwärtig. Nur bremst das Bühnenbild (Constanze Fischbeck) mit einer Stellwand, einer aufgeschnittenen roten Fahne und einem alten Sofa den Energiefluss aus. Wolfgang Krause Zwiebacks Part als Stadlobers Vorlagengeber ist auch nicht wirklich zwingend. Corinna Harfouch dagegen gibt in Filmeinspielungen Jungs drei emanzipierten Ehefrauen eine wichtige, nachdenkliche Stimme.
Und den roten voluminösen Sessel, der mehr Skulptur als Möbelstück ist, nutzt Stadlober als Tribüne, von der aus er mit der Dada-Bewegung abrechnet, der er kurz angehörte. Nah kommt einem dieser Zeitgenosse in diesen guten zwei Stunden. Verantwortlich ist Stadlobers ungeschützte Unmittelbarkeit der Darstellung, die dramaturgisch kluge Zusammenstellung der Texte und die Qualität der Jung’schen Texte an sich.
Schonungsloses Fazit
Man wird melancholischer Fan dieses Menschen, der am Ende seines Lebens eine ungeschönte Autobiografie veröffentlichte mit dem Titel: „Der Weg nach unten. Aufzeichnungen aus einer großen Zeit“ Schonungslos zieht er das Fazit, immer wieder gescheitert zu sein, weil er sich nie ganz einer Sache verschrieb.
Vor 100 Jahren saß Franz Jung, damals 30 Jahre alt, ein sanfter, kleiner und doch kräftiger Mann, in seinem Büro am Halleschen Ufer 32 – wie es der Zufall will, heute die Adresse des HAU2 – und stempelte mit Freunden Spartakus-Parolen auf Geldscheine. Er besetzte mit einem Trupp Soldaten das Wolffsche Telegraphenbüro. Wurde verhaftet, floh nach Breslau und gründete dort die Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands. Kaperte einen Fischdampfer, gelangte in die Sowjetunion, traf Lenin, der aber lehnte die Aufnahme der unabhängigen KAPD in die Kommunistische Internationale ab.
Franz Jung befand sich am 1. Mai 1920 in einem Murmansker Lagerschuppen in der Sowjetunion voller hoffnungsvoller Menschen und Gesang. Er erinnert sich: „Es ist das große Erlebnis meines Lebens geworden. Das war das, was ich gesucht habe und wozu ich seit der Kindheit ausgezogen bin: die Heimat, die Menschenheimat.“ Max Herrmann Neiße sagte einmal über Franz Jung: „Aus der ganzen Gilde mächtiger Zeitgenossen weiß ich niemanden, der so wie Jung keine Kompromisse macht, so wie er beständig mit seiner vollen Persönlichkeit bezahlt.“ Ein Torpedokäfer.
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