Frankfurter Buchmesse: Empörte Leser, smarte Autoren
Das Fazit der Messe: Ordentlicher Besucherandrang, glückliche Isländer, produktive Missverständnisse. Kleine Szenen am Rande helfen, den Buchmarkt zu verstehen.
FRANKFURT/MAIN taz | Die Frau war empört. Wie empört sie war, sah man an der Art, wie sie den Namen Thilo Sarrazin aussprach, mit leichtem Schaudern. Neben ihr saß die Schriftstellerin Judith Schalansky. Sie blickte die empörte Frau halb staunend, halb ungläubig an. Das sind die Momente, in denen einem auf der Frankfurter Buchmesse schlagartig etwas über die aktuellen Rahmenbedingungen der deutschen Literatur aufgehen kann.
Die empörte Frau heißt Astrid Klug, sie ist SPD-Politikerin. Sie hat Judith Schalanskys Roman "Der Hals der Giraffe" gelesen und sich dabei furchtbar über dessen Hauptfigur aufgeregt, eine Biologielehrerin, die ihre Schüler verachtet, teils auch, weil aus ihren genetischen Anlagen nicht viel herauszuholen sei. Deshalb der Sarrazin-Vergleich. Das sei doch "Sarrazin"-Denken, dann könne man die heutige Schülergeneration auch gleich ganz abschreiben, sagt sie.
In der Messehalle 3.0 hat nun also die Zeitschrift Vorwärts eine kleine Debatte mit ihr und der Autorin organisiert. Judith Schalansky erklärt dann erst mal ganz sanft, dass man literarische Figuren nicht eins zu eins als real nehmen könne. Sie sagt: "Sie habe Spaß daran gehabt, eine negative Figur zu schaffen, bei der man doch dranbleibt." Sie sagt: "Ich finde es gut, seine Feinde zu kennen." Sie sagt dann auch: "Es ist wichtig, die eigene Inge Lohmark in sich zu erkennen." Darauf sagt Astrid Klug dann lieber erst mal gar nichts.
Autorinnen ohne Künstlerallüren
Man mag solche Szenen sofort, wenn man auf der Frankfurter Buchmesse an ihnen vorbeischlendert. Wahrscheinlich muss man genau das begreifen, um den derzeitigen deutschen Buchmarkt zu verstehen: dass es auf der einen Seite viele gute und smarte Autorinnen wie Judith Schalansky gibt, die ohne alle Künstlerallüren ihr eigenes Tun erklären können; und dass es auf der anderen Seite viele, viele Leser und Leserinnen gibt, die sich erst mal einen Teufel um Literarizität scheren und sich von Romanen unmittelbar affizieren lassen. Und auf der Buchmesse treffen sie halt aufeinander.
Auch das offizielle Fazit der gestern zu Ende gegangenen Messe kann sich sehen lassen. Ordentlicher Besucherandrang, am Sonntag hat es noch mal lange Schlangen vor den Kassen gegeben. Halldór Gudmundsson, der Koordinator des isländischen Gastlandauftritts, strahlte vor Freude und sprach von einer "überwältigenden und fast schon euphorischen Resonanz" - die isländischen Bücher hätten mit dieser Messe nun den internationalen Durchbruch geschafft. Und Joachim Unseld, der Verleger der Frankfurter Verlags-Anstalt, herzte seine Autorin Nino Haratischwili, die gerade für ihren Roman "Mein sanfter Zwilling" den Preis der Hotlist, der unabhängigen Verlage also, bekommen hatte.
Was die geschäftlichen Bilanzen angeht, sprachen Verleger gegenüber Nachrichtenagenturen von einer "unaufgeregten Messe", um gleich anzufügen: "Fürs Geschäft mit Lizenzen ist das aber nicht schlecht." Wehmut kam allerdings auf, wenn man am Eichborn-Stand vorbeiging, der pleitegegangene Verlag wird wohl zum letzten Mal auf einer Buchmesse vertreten gewesen sein. Und beim Berlin-Verlag sah man auch nicht nur glückliche Gesichter. Es machte die Runde, dass die ehemalige Berlin-Verlegerin Elisabeth Ruge eine Berliner Dependance des Hanser-Verlages aufmachen und dabei prestigeträchtige Autoren wie Ingo Schulze mitnehmen wird.
Schnell gestrickt
Neben Judith Schalansky, die mit ihrem neuen Roman überall zu sein schien, sah man auf den Veranstaltungen häufig: Eugen Ruge, den Buchpreisgewinner; Alice Schwarzer, die ihre Autobiografie promotete; Umberto Eco, den einzigen Weltstar der Literatur, der in Frankfurt vertreten war; Charlotte Roche, die bei ihren Auftritten stets die größte Handyfotodichte unter den Besuchern auslöste; und Melanie Mühl, die viele Besucher erkannten, weil sie mit ihrem Buch "Die Patchwork-Lüge" ein paar Tage zuvor in der Show von Harald Schmidt daran gescheitert war, lustig zu sein.
Bei ihren Auftritten scheiterte Melanie Mühl daran, mehr zu tun, als ihre These immer neu zu variieren. Dabei konnte einem aufgehen, dass es derzeit nicht nur einen Strukturwandel weg vom gedruckten Buch hin zum Ebook gibt, sondern längst auch einen weg von der Kulturzeitschrift hin zum schnell gestrickten Sachbuch: Die These, dass auch Patchwork-Familien Probleme haben, hätte man vor Jahren mal gut in einem Essay im Kursbuch diskutieren können, inzwischen aber macht man aus einer These halt gleich ein ganzes Buch. Und dieser Trend ist ungebrochen: Das Gegenbuch zur "Patchwork-Lüge" ist, wie man auf der Messe hörte, bereits in Vorbereitung. Es wird im Frühjahr im Aufbau-Verlag erscheinen.
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