Fragen der Vernunft: Vom geringen Wert der Authentizität
Auf dem Weg zum besseren Menschen können auch Krawatten im Weg stehen. Und der Ethikrat bringt natürlich Sokrates ins Spiel.
K ürzlich ging ich nach häuslichen Querelen über einen Flohmarkt, um nach einer Hose zu suchen. Statt einer Hose kaufte ich einen Globus, einen goldenen Gürtel und drei verbeulte Silberlöffel. Während ich die Löffel in meine Tasche packte, sah ich die überquellende Besteckschublade zu Hause vor mir. Es ist ein schlechtes Zeichen, wenn die einzig verfügbare Aufheiterung der Kauf überflüssiger Dinge ist, dachte ich und griff nach einer Spardose in Eulenform. Als ich nach den Verkäufern suchte, sah ich den Ethikrat, der zerfledderte Strohhüte an einer Wäscheleine aufhing. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Hinweise in Fragen praktischer Ethik geben.
„Guten Tag“, sagte ich, „was soll die Spardose kosten?“ „Neun Euro“, sagte der Ratsvorsitzende, „weil Sie es sind.“ „Neun Euro“, wiederholte ich und betrachtete die Eule, deren Farbe abblätterte und die einen Fuß verloren hatte. „Gibt es noch einen Schlüssel?“ „Nein“, sagte der Ratsvorsitzende, „aber sicherlich kann ein kompetenter Schlüsseldienst einen nachmachen“. „Wie wären sechs Euro?“, fragte ich vorsichtig. „Halten Sie den Preis, den wir angesetzt haben, für übertrieben?“, fragte der Ratsvorsitzende und wandte sich den beiden anderen Ratsmitgliedern zu, die eine Puppe mit eingedrückter Nase auf den Verkaufstisch setzten. „Möglicherweise“, sagte ich, aber niemand hörte mir zu und ich kramte mein letztes Geld aus dem Portemonnaie.
„Vielleicht wollen Sie Ihren Kindern eine Freude machen“, sagte eines der Ratsmitglieder, das in der Regel schwieg und hob die Puppe empor, die ein quäkendes Geräusch von sich gab. „Ehrlich gesagt nicht“, antwortete ich, „wir stehen gerade auf schlechtem Fuß.“ Tatsächlich hatte das ältere Kind im Streit über die Notwendigkeit, Geige zu üben, einen Begriff für mich gefunden, den ich nicht wiederholen möchte, woraufhin ich im Zorn seinen Flummi aus dem Fenster geworfen hatte.
„Ich habe danach an die Elternratgeber gedacht, die das Authentische so preisen“, sagte ich, während der Ratsvorsitzende die Eule in modrig riechendes Seidenpapier wickelte. „Mir leuchtet es nicht ein. Was bringt es, wenn man authentisch unangenehm ist?“ „Schöne Hüte, gute Hüte“, begann eines der Ratsmitglieder zu rufen, und ich hob meine Stimme. „,Hauptsache authentisch', sagen die Leute, und dann besuchen sie ihre Mutter lieber nicht im Pflegeheim, weil ihre Beziehung authentisch ambivalent ist. Aber vorher haben sie sie aus einem authentischen Bedürfnis noch als Babysitterin genutzt, solange sie fit genug war.“
Der bessere Mensch
Da drängte sich ein Hipster im Poloshirt neben mich. „Kannst du mal Platz machen?“, sagte er, aber es war keine Frage. „Kann ich nicht“, sagte ich und wandte mich an den Ratsvorsitzenden. „Ist die Geschichte der Philosophie nicht die des Versuchs, sich selbst zu einem besseren Menschen zu formen? Und nicht nur zu einer properen Hülle, die man bei Präsenztrainings und Pilates optimiert, damit man besser vorankommt?“
Der Ratsvorsitzende betrachtete mich mit schief gelegtem Kopf, während er einen Stapel groß gemusterter Krawatten in Richtung des Hipsters schob. „Ich möchte Sie an eine Überlegung Epiktets erinnern“, sagte er: „,So wurde Sokrates ein vollkommener Mann, indem er sich in allen Dingen dazu anhielt, nichts anderem als der Vernunft zu gehorchen. Du aber, wenn du auch noch nicht Sokrates bist, musst du doch leben wie einer, der ein Sokrates werden will.'“
„Und was bedeutet das konkret“, rief ich, „also etwa in Sachen Flummi?“, aber da johlte der Hipster: „Geil, diese Krawatten“ und rempelte mich zur Seite.
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