Fotografie in Ostdeutschland: Wie im Halbschlaf
Zwei Fotografie-Ausstellungen in Berlin zeigen den Blick auf Mode und Alltag in Ostdeutschland, insbesondere den Sibylle Bergemanns.
Die Kunst dessen, was einmal Ostblock hieß (und bald wieder so heißen könnte), war eine unbekannte Sphäre. Nachdem der russische Fotograf Vladimir Sichov 1980 seine 180.000 Alltagsfotos in zwei Koffern aus der Sowjetunion in den Westen geschmuggelt hatte, wurde er schnell zum meistveröffentlichten Fotografen der Welt. Als 1990 die Pariser Ausstellung in La Villette mit Fotograf*innen und anderen Künstler*innen aus der ehemaligen DDR auf „Das andere Deutschland außerhalb der Mauern“ zurückblickte, war das Erstaunen groß: Welch andere Auffassung von Fotografie, von Kunst, von der Welt.
Zwei Ausstellungen in Berlin zeigen dieses Erstaunen erneut: über die Ostberliner Fotografin Sibylle Bergemann in der Berlinischen Galerie und über die Frankreich-Erfahrungen der Berliner Fotograf*innen-Gruppe „Ostkreuz“ im Institut Français. Schon lang vor dem Mauerfall waren die Mitglieder der Gruppe hin und wieder in Paris und hatten von dort Bilder mitgebracht – Erstaunen in die andere Richtung.
Die 1941 geborene Sibylle Bergemann, die mit ihrem Mann, dem Fotografen Arno Fischer, zeitweise im Brandenburgischen eine Art Salon führte, in dem die gesamte Kulturboheme der DDR verkehrte, fotografierte etwa für die ostdeutsche Modezeitschrift Sibylle. Zeitschrift für Mode und Kultur. Viele der jetzt zum ersten Mal ausgestellten Aufnahmen hat Bergemann nur für sich gemacht. Ihre fotografische Welt zeigt ein großes Spektrum: von Alltagsfotografien über stilisierte Inszenierungen, Architekturansichten, Stadtfotografien von Ostberlin bis in die ganze Welt: Niederlande, Polen, das tatarische Kasan oder das von Ostberlin aus so nahe gelegene Moskau. Einem größeren Publikum wurde sie mit ihren Modefotografien von DDR-Designern bekannt.
„Fenster sind auch Menschen“
Ihre erste eigene Ausstellung im Jahr 1968 zeigte aber nicht Fotografien von Menschen und Kleidern, sondern von Fenstern. „Da ich mich nicht getraut habe, Menschen zu fotografieren, habe ich Fenster fotografiert. Wenn man sich die anguckt, hat man eine Vorstellung von den Bewohnern dahinter: Sehe ich Rüschen? Fenster sind auch Menschen. Das war die Idee.“
„Sibylle Bergemann. Stadt Land Hund. Fotografien 1966-2010“: Berlinische Galerie, bis 10. Oktober
„Ostkreuz: Un visa pour Paris“: Institut Français, 29. Juni bis 17. September
Im Unterschied zu Sichovs Moskauer Anarchismus springen einen Bergemanns Fotografien selten direkt an. Wenn sie Menschen wie Fenster fotografiert, ist es schwer, in sie hineinzuschauen, ihr Blick hat etwas Abwesendes, wie im Halbschlaf, der Mund emotionslos, an florentinische Renaissanceportraits erinnernd.
Oft stehen die Frauen vor einem Stück DDR-Architektur – vor Schloten, Plattenbauten, von Ruß und Geschichte zerfressenen Mauern. Bis in die Mitte der 1990er Jahre fotografiert sie ausschließlich in Schwarz-Weiß. Eine Fotografie von 1984 haben die Ausstellungsmacher*innen aus guten Gründen zum Cover erhoben: eine Frau in einem dunklen Übergangsmantel aus wasserabweisenden Twill über einem gestrickten Cardigan mit hohem Kragen steht am Rand einer Stadtautobahn, über die ein Trabant, ein Wartburg und ein Lada verkehren, hinter ihr Laternenpfähle und die schwarze Rußfahne eines Fabrikschlots. Eine Allegorie der Kunst und Mode, selbst im aufgeräumten Realsozialismus: Schön steht sie am Straßenrand.
Abwesender Blick und hohe Konzentration
Der abwesende Blick aber ist nur die eine Seite von Bergemanns fotografischem Werk. Die andere ist: hohe Konzentration, ohne Glitzer, ohne Ablenkung. „Standhaftigkeit“ nennt das die Leiterin der fotografischen Sammlung und Kuratorin der Ausstellung Katia Reich. Die inszenierten Fotografien sind oft lange belichtet, wie in der Frühzeit der Fotografie. Das gibt den Bildern eine manchmal geradezu sakrale Ausstrahlung.
Sie kommt auch von der konzentrierten Wahrnehmung des Unvorhergesehenen, wenn etwa Tiere auftreten, vor allem Hunde, aber auch Esel oder Ziege. Zusammengerollt schläft ein kleiner Hund unterm Baum eines quadratischen Rasenstücks in einer polnischen Stadt (1973); einer springt hoch in die Luft auf einer Dachterrasse in Paris – am Horizont ein Babylon von Plattenbauten (1979); ein anderer mogelt sich, Männchen machend, in das Modefoto einer blonden Frau am Strand in wehendem geblümten Hippie-Outfit, die Haare aufgestellt im Wind (1976).
Die Farbe gelangt, wie aus dem Lehrbuch der Geschichte, erst nach dem Mauerfall Mitte der 1990er Jahre in Bergemanns Fotografie. Vor der alten, gemalten Kulisse eines fantastischen Raumschiffs in Potsdam besinnt sich eine Frau mit geschlossenen Augen, die offene Hand an der Stirn (1994). Ende der 1990er Jahre fährt Bergemann für Aufträge von Geo nach Jemen und in den Senegal und bringt von dort Fotografien in unglaublichen Farben mit.
Ihren fotografischen Grundsätzen bleibt sie treu bis in die spätesten Aufnahmen (2001 und 2010) von der Architektur sandgelber Häuser, einer Ziege vor rosaroter Wand oder der theatralischen Mode der senegalesischen Designerin Oumou Sy, inszeniert nicht schwarz-weiß in Ostberlin, sondern in allen Farben Westafrikas.
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