Fotografie Das Leben gleicht einem Feld von Probeabzügen: Der Bildband „LGBT San Francisco“ ist ein zeithistorischer Schatz: Der perfekte Catwalk
Das Titelbild lädt spontan zur Exotisierung ein: Der fast zwei Pfund pralle Band, seines Gewichts wegen eher nichts für beschauliche Lektüre in öffentlichen Nahverkehrsmitteln, zeigt darauf zwei Männer. Der eine mit tigerfellgemustertem Top über freier, leicht behaarter Bauchregion, der andere, von der Statur definitiv wuchtiger, trägt Blumenstrohhut, wehende Transparentbluse, Perlencollier und in die Bluejeans gesteckt ein T-Shirt mit dem Spruch „Faggots are fantastic“ – also: Schwuchteln sind fantastisch.
Man muss es heterosexuell orientierten, gleichwohl politisch wohlgesinnten Menschen erklären: Das Wort Faggot ist abfällig gemeint, die Schwulenbewegung hat es in den frühen siebziger Jahren zu ihrem gemacht, es sozusagen entkontaminiert und daraus eine Vokabel der Selbstbehauptung gemacht. So war die Lage vor fast einem halben Jahrhundert: Schwule – und Lesben wie auch Trans*-Personen – mussten überhaupt erst darum kämpfen, sprechfähig zu werden, öffentlich und vernehmlich.
Die mächtige Waffe der Homo- und Transphoben war ja stets, „über das da“, das Schmuddelzeug, nicht zu sprechen – und die meisten Homos und Trans fügten sich. Gern mit den als Argument getarnten Sätzen „Ach, ist doch nicht so wichtig“ oder „Schwulsein ist nicht abendfüllend“ – und bestätigten auf diese Weise die Sprach- und damit die Handlungsarmut des heteronormativen Komplexes. Das sollte man wissen, damit dieser vorzügliche, anrührende Bildband, der unter dem fast frivol nüchternen Titel „LGBT San Francisco“ erschienen ist, nicht bloß als eine zum Coffeetable-Book geronnene Kollektion von Schnappschüssen aus der queeren Welthauptstadt verstanden wird.
San Francisco, das war nämlich bis Ende der sechziger Jahre vor allem eine irgendwie dörflich gesinnte Metropole, die durch den Hippieboom der mittleren Sechziger bekannt wurde, auch durch TV-Serien oder als Mietquartier für die Studierenden an der Berkeley-Universität. Dabei hatte sich in San Francisco seit Ende des Zweiten Weltkriegs längst das wichtigste und politisch intensivste Soziotop von Nichtheterosexuellen herausgebildet. Schwule Männer und lesbische Frauen, die als Soldat*innen nach 1945 an der Bay hängen geblieben waren, weil sie nach der Erfahrung des vergleichsweise liberalen Klimas dieser Stadt nicht wieder in ihre Käffer irgendwo in den Prärien zurückkehren wollten.
Insofern war es kein Wunder, dass die Stadt, die weder das fette Kapital an sich zog (New York) noch das Filmbusiness lockte (Los Angeles), die Kapitale des Undergrounds wurde, besonders all derer, die den Normen des Heterosexuellen nicht nachkommen konnten oder wollten: In New York wurde zwar die moderne LGBT-Bewegung geboren, 1969, mit den militanten Kämpfen gegen die korrupte Polizei, San Francisco hingegen war das metropole Kernstück, von dem aus die bürgerrechtlichen Kämpfe um Präsenz und rechtliche Gleichstellung geführt werden konnten. Von hier galt es jenes Selbstbewusstsein in die Gemüter zu pflanzen, das da in dem Satz gipfelt: „Faggots are fantastic“.
Harvey Milks Fotoladen
Daniel Nicoletta, 1954 in New York City geboren und aufgewachsen in einem mittleren Provinznest namens Utica, ging als 19-Jähriger nach San Francisco und arbeitete als Fotograf unter anderem für das schwule Magazin The Advocate. In der Stadt seines Lebens, eben San Francisco, seiner Homebase, fand er einen Job in Harvey Milks Fotoladen im Castro- Viertel, dem Quartier der LGBT-Leute schlechthin. Hier wurde er zum Freund Milks, dem ersten gewählten, offen schwulen Stadtrat der Kommune, dem Kämpfer schlechthin für bürgerrechtliche Gleichstellung von LGBT – und für deutliche Sichtbarkeit.
Dieser Fotoband gehört in jeder Hinsicht zu genau diesem Programm: Er ist eine Chronik der Arbeiten Nicolettas – und zugleich eine Art Familienalbum der aus der Not (Homo- und Transphobie) geborenen Wahlverwandtschaften. Queere Traditionen und Erbschaften sind beim Blättern und Durchgucken auszumachen: Nicoletta hat über die vielen Jahre seiner Arbeit ein historisches Vermögen angehäuft – und dazu zählt am geringsten die Tragödie der Ermordung Harvey Milks im November 1978.
Nicolettas Fotoschätze sind in einer Auswahl zu sehen – naturgemäß. Alle Arbeiten würde das Buch circa eine halbe Tonne schwer machen. Aber auch so wird kenntlich, dass alle Gezeigten vor allem dies eint: so zu leben, als sei die eigene Biografie ein Feld von Probeabzügen, von Experimentellem, vom Sein in Anderem.
Alle fotografierten Menschen – seien sie männlich, weiblich oder trans* oder in welcher Hinsicht auch immer sie als nonheterosexuell zu sehen sind – eint, dass aus ihren Gesichtern eine gewisse Aufgeregtheit spricht. Ihre fundamentale Nervosität, ein Leben zu leben, von dem gewiss ihre Eltern nicht wünschten, dass sie es leben, wirkt stark lebendig, ja verlebendigend. Das ist der Kern der Arbeiten dieses Fotografen: Chronist einer fragilen, aber, seitens der Queers, siegeslustigen Epoche (gewesen) zu sein.
San Franciso war und ist hierfür der perfekte Catwalk, das Pflaster, das schützt. Und Daniel Nicoletta der wichtigste und kampflustigste Bilderchronist einer Szene, die sich nicht mehr beschweigen lassen wollte. Schwuchteln, nicht wahr, sind, so kann gelernt werden, echt supa. Wer diese Bilderfluten exotisiert anguckt, ist der Normalität klassischer Art schon in die Falle gegangen.
Tony Nourmand (Hrsg.): „LGBT: San Francisco. The Daniel Nicoletta Photographs“. Mit einem Vorwort von Gus van Sant. Reel Art Press, London 2017, 304 Seiten, 50 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen