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Fotoband zum OktoberfestWachsende Enthemmung

An diesem Sonntag wäre der letzte Tag der diesjährigen Wiesn gewesen. Was es dort alles zu sehen gibt, hält Volker Derlath seit 1984 mit der Kamera fest.

Unvermeidlich: Absturz und Prosit Foto: Volker Derlath

Wenn man die 50 überschritten hat, wird die eigene Kindheit historisch. Ein Beispiel dafür ist die Präsenz von Musik im Alltag. Das zeitgenössische Leben ist mit einer beständigen Tonspur unterlegt, ob individuell mit Knopf im Ohr oder als Kon­sumbegleitung für alle, immer und überall. Als Münchner Kindl der 70er Jahre gab es hingegen vom Radio abgesehen nur zwei Orte, an denen Musik machtvoll an mich herantrat: den katholischen Gottesdienst – und das Oktoberfest.

Im Bierzelt zu sitzen, was damals noch ohne Einlasskontrolle und Vorbestellung möglich war, die Eltern bei Bier und Hendl, man selbst mit Spezi und Würstln und einem von diversen Fahrvergnügungen flauen Gefühl im Bauch, herrschte erst das Hintergrundgeräusch von Stimmen und aneinanderknallenden Bierkrügen, bis sich dann auf der Tribüne plötzlich etwas regte und dann explodierte, der Bayrische Defiliermarsch, Rosamunde bis hin zum eben unvermeidlichen „Ein Prosit der Gemütlichkeit“.

Kräftig war das, beeindruckend und in späteren Jahren dann auch berauschend, unvergesslich – so wie das Hochfahren aus dem U-Bahn-Schacht in die von den Attraktionen blinkende Dämmerung hinein, wenn langsam die ersten Wiesngeräusche zu einem durchdringen und die Luft nach gebrannten Mandeln riecht und manch weniger Erfreulichem, dieser ganz eigene Wiesnduft und dieses Wiesnlicht, das ich dann auch unbedingt meinen Kindern habe zeigen wollen.

So wie ich ihnen erzählt habe, wie ich am 27. September 1980 morgens mit meiner Mutter und mit meinen Brüdern beim Frühstück gesessen bin und wir wie immer Cat Stevens’ „Morning has broken“ gehört haben, im „BR-Musik­journal“. Aber an diesem Tag war nichts wie immer. Eine Bombe war hochgegangen am Haupteingang der Wiesn. Dass es sich dabei um einen rechtsradikalen Angriff und um den schwersten Terrorakt in der Geschichte der Bundesrepublik handelte, erfuhr ich erst viel später. Doch der kindliche Schock über die Miesheit dieses Attentats und über seine bewusste Nichtaufklärung gehörte für mich seitdem zu jedem Wiesnbesuch, er triggerte mich bis in die erste Maß hinein.

Bis zum totalen Abfuck

Dann aber setzt ein, was der Fotograf Volker Derlath in seinen Bildern einfängt: der sich anschleichende Rausch, die sich steigernde Enthemmung, der nie völlig ausbleibende Absturz, manchmal bis hin zum totalen Abfuck.

Derlaths Bilder zeigen ein Volksfest, „the essence“ dieses Volks, wie es in einer schon oft und so auch zum Auftakt des Bandes zitierten Beschreibung der Bierzeltstimmung von Thomas Wolfe heißt.

Bei aller auserzählten Hochproblematik des Volksbegriffs bleibt das Oktoberfest in meiner Erinnerung eine trachtenfaschingsfreie Selbstbefeierung Münchens, seiner Jugend, seiner Grattler und Gammler, seiner Strizzis und CSUler, seiner Bussigesellschaft, Bauernfünfer aus dem Umland und welschen Nachbarn von jenseits des Alpenhauptkamms.

Heutzutage ist dieser von mir erinnerten Pracht im Austraghäusl „Oide Wiesn“ ein Reservat eingerichtet worden – aber da war ich nie und mag das nicht schlechtreden. Ich muss nicht mehr auf die Wiesn, und wenn mich doch mal ein bestimmtes Endseptember-Licht in Stimmung bringt, dann kann ich zu Derlaths Band greifen: Da ist alles drin. Da kommt alles raus.

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2 Kommentare

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  • Der Bauernfünfer war mir neu, deswegen mal nachgeschaut:

    "Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein war Bayern weitgehend ein Agrarstaat, aber politisch hatten die Bauern nicht viel zu sagen.

    Die Bezirksamtsmänner und Bürgermeister wurden allesamt in der Regel von der Obrigkeit eingesetzt, die die meist adeligen Abgeordneten von den Parteien handverlesen hatten.

    Erst gegen Ende des Jahrhunderts flammte mit dem antiklerikalen und antifeudalen „Bayerischen Bauernbund“ ein Fünkchen bäuerlicher Unbotmäßigkeit der Landwirte auf. Vorher war der kleine Gemeindeausschuss, der den Bürgermeister in lokalen Angelegenheiten zu beraten hatte, das einzige Sprachrohr der bäuerlichen Interessen. Dieses Gremium bestand meist aus fünf Bauern. In den bürgerlichen Kreisen war es wenig beliebt – sie nannten den fünfköpfigen Gemeindeausschuss deshalb bald recht despektierlich „Bauernfünfer“."



    Norbert Göttler

    • @guzman:

      Danke.



      Wollte gerade beim Lesen nachschauen.