Forscher:innen über Ukrainistik: „Hundert Jahre Stereotypisierung“
Andrii Portnov und Bozhena Kozakevych arbeiten am bundesweit einzigen Lehrstuhl für ukrainische Geschichte. Es gebe noch große Wissenslücken, kritisieren sie.
taz: Herr Portnov, Frau Kozakevych, es gibt nur einen Lehrstuhl für ukrainische Geschichte in Deutschland – an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Was sagt das über das deutsche Interesse an der Ukraine aus?
Andrii Portnov: Es sagt vor allem zweierlei aus: Erstens, dass die osteuropäische Geschichte und Kultur bis heute sehr stark als Teil der russischen oder postsowjetischen Geschichte und Kultur verstanden wird – Ukrainistik gibt es bis heute eigentlich nur als Teilfach der Slawistik. Und zweitens, dass die Ukraine in der deutschen Hochschullandschaft bis heute nicht als selbstständiges Subjekt ernst genommen wird.
Warum ist das ein Problem?
Portnov: Es gibt in der deutschen Öffentlichkeit ein Wissensdefizit über die Ukraine, das sich jetzt, da wir uns mit dem Land beschäftigen müssen, rächt. Viele wissen wahrscheinlich nicht, dass es lange vor dem Zerfall der Sowjetunion eine ukrainische Kultur gab – die ukrainische Literatur reicht beispielsweise bis ins 18. Jahrhundert zurück. Viele denken aber: Die Geschichte der Ukraine beginnt erst im Jahre 1991, so wie Wladimir Putin es immer wieder behauptet.
Dazu kommt, dass die Ukraine in der Forschung und in den Medien oft auf die Themen Antisemitismus und Nationalismus reduziert wird. Das sieht man auch jetzt, seit Beginn der russischen Invasion: Da ging es unverhältnismäßig häufig um das rechtsextreme Asow-Regiment, das jetzt gegen die russischen Truppen kämpft.
Für die meisten Menschen in Deutschland war die Ukraine bisher weit weg. Nun sind Hunderttausende Ukrainer:innen im Land und das Leid in ihrer Heimat medial im Fokus. Weitet sich das öffentliche Wissen zur Ukraine nicht gerade rasend schnell?
Bozhena Kozakevych: Das hoffen wir natürlich. Aber die Klischees sitzen tief. Nach Beginn des russischen Einmarsches in die Ukraine habe ich bei einer öffentlichen Veranstaltung teilgenommen: eine „Einführung in die ukrainische Geschichte“. Bei der anschließenden Diskussion gingen 80 Prozent der Fragen um Nationalismus in der Ukraine oder um Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung. Das sind natürlich sehr wichtige Themen – aber offenbar auch die einzigen, mit denen die Ukraine heute assoziiert wird.
Vor Kurzem haben Sie, Herr Portnov, bereits in der Neuen Zürcher Zeitung beklagt, dass über die Ukraine diverse Missverständnisse und Klischees bestehen. Welchen Anteil daran tragen Ihrer Meinung nach die Universitäten?
Portnov ist 42 Jahre alt und Inhaber des Lehrstuhls „Entangled History of Ukraine“.
Kozakevych ist 32 und Wissenschaftliche Mitarbeiterin an diesem Lehrstuhl
Portnov: Seit mehr als hundert Jahren gibt es in Deutschland eine historische und kulturelle Stereotypisierung der Ukraine. Ich will nicht sagen, dass es gar keine gute Forschung zur Ukraine gibt – die gibt es! Das Problem aber ist, dass die Ukrainistik an den Hochschulen so gut wie gar nicht institutionalisiert ist.
An unserem Lehrstuhl sind Frau Kozakevych und ich alleine, beide mit einer halben Stelle. Von denen, die in der Slawistik arbeiten, gibt es aber auch viele, die die Geschichte Osteuropas vor allem aus einer russischen Perspektive erzählen. Es gibt – verzeihen Sie den Ausdruck – viele Gerhard Schröders an den deutschen Universitäten.
Das müssen Sie erklären …
Kozakevych: Das Problem beginnt oft schon bei den Ausschreibungen zu Forschungsarbeiten. Obwohl es um die Geschichte der Ukraine geht, werden oft keine ukrainischen Sprachkenntnisse verlangt, sondern wenn überhaupt russische. Man kann aber keine ernsthafte Ukraineforschung ohne Ukrainischkenntnisse betreiben.
Das ist kein Vorwurf an die Kolleginnen und Kollegen, von denen viele sehr wohl Ukrainisch sprechen. Aber es ist bezeichnend, dass an deutschen Unis bis heute offenbar die Vorstellung herrscht, mit ein bisschen Russisch lässt sich auch zur Ukraine forschen. Wer jedoch nur mit russischen Quellen arbeiten kann, reproduziert natürlich ein gewisses Geschichtsbild – das maßgeblich von Russland geprägt ist.
Die Hochschulen versprechen, jetzt möglichst viele ukrainische Studierende und Wissenschaftler:innen aufzunehmen, es gibt auch spezielle Förderprogramme. Wird das nicht automatisch die Ukraine-Kompetenz an deutschen Hochschulen stärken?
Portnov: Das müssen wir abwarten. Natürlich sind diese Hilfen im Moment sehr wichtig – und das Engagement für gefährdete Akademiker:innen sehr begrüßenswert. Es ersetzt aber noch keine Strategie, wie wir die Ukrainistik an deutschen Hochschulen stärken können.
Beim Rennen um zusätzliche Stellen haben in der Regel nur die Fächer eine Chance, die Drittmittel einwerben können. Sind Ihre Chancen mit dem Krieg gestiegen?
Kozakevych: Wir sind gerade dabei, uns mit konkreten Projektideen an Stiftungen zu wenden – übrigens im Verbund mit anderen Hochschulen, die auch ihre Ukraine-Kompetenz stärken wollen. Genaueres können wir im Moment nicht preisgeben. Natürlich wäre es wichtig, wenn wir mehr Unterstützung bekämen. Auch, um unsere Kolleginnen und Kollegen in der Ukraine besser unterstützen und in unsere Arbeit einbinden zu können.
Die Präsidentin Ihrer Hochschule, Julia von Blumenthal, hat angekündigt, Lehraufträge an Wissenschaftler:innen in der Ukraine vergeben zu wollen.
Kozakevych: Lehraufträge sind erst mal eine gute Idee. Wir sind auch sehr dankbar für die Unterstützung der Universität. Dennoch müssen wir überlegen, ob Lehraufträge wirklich überall in der Ukraine helfen können. Ein Seminar aus dem Luftschutzbunker stelle ich mir schwierig vor. Wichtig ist jetzt, mit den Kolleginnen und Kollegen in engem Austausch zu bleiben – und sie weiter in wissenschaftliche Kooperationen einzubeziehen …
Portnov: … und zwar nicht allein über den aktuellen Krieg und seine historischen Wurzeln. Wir wollen ja erreichen, dass die Ukraine bald für mehr steht als für Antisemitismus, Nationalismus und eben den Krieg mit Russland. Sondern für seine kulturelle, sprachliche und religiöse Vielfalt – so wie das für viele andere Länder in Osteuropa selbstverständlich ist.
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