Forscherin über die Hanse: „Das war kein Wohlfühlverein“
Angela Ling Huang forscht über die Geschichte der Hanse und des Ostseeraums. Ein Gespräch über das Handelsbündnis und das Leben in diversen Kulturen.
wochentaz: Frau Huang, Sie haben in verschiedenen Kulturen gelebt. Prädestiniert Sie das für die Erforschung einer internationalen Organisation wie der Hanse?
Angela Ling Huang: So habe ich noch nie darüber nachgedacht. Wahrscheinlich, weil die Hanse eher als deutsch oder zumindest nordeuropäisch wahrgenommen wird und weniger international-global. Ich glaube aber schon, dass es hilft, diesen Hintergrund zu haben und zu wissen, dass Kulturen sehr unterschiedlich sein können und sich Menschen teilweise nicht vorstellen können, wie andere „funktionieren“. Als im Rheinland aufgewachsenes Kind für ein Jahr in China zu sein – da hinterfragt man die Unterschiede nicht so. Hinterher denkt man: Gut, das gibt es eben auch. Und als wir nach Ostdeutschland zogen – dann war das dort halt anders. Man nimmt das bis zu einem gewissen Punkt hin. Erst rückblickend habe ich verstanden, dass viele diese Erfahrungen gar nicht machen. Diese Art von nicht mal nur Fremdheit, sondern sich auf eine andere Welt einzulassen.
Und selbst immer „anders“ zu sein. War das in Ihrer Jugend in einem rheinischen Dorf ein Problem?
Nein, im Gegenteil: Meine jüngere Schwester und ich waren ja zwei „süße Asiatenmädchen“. Mein Vater ist Taiwanese, meine Mutter Deutsche. Und meine Oma, die viel auf uns aufpasste, hat ganz gern mit uns angegeben. Daran habe ich keine negativen Erinnerungen. Es ist spannend zu sehen, dass in unserer Gesellschaft das Asiatische – so mein Eindruck – oft eher positiv besetzt ist als Menschen anderer Herkünfte.
Die Frau Angela Ling Huang (39) wuchs als Tochter einer Rheinländerin und eines Taiwaners in Königswinter bei Bonn auf. Als sie neun Jahr alt war, zog die Familie für ein Jahr nach Peking, kurz nach der Wende nach Leipzig. Philosophie- und Geschichtsstudium an der Uni Erlangen-Nürnberg, Magisterarbeit über Hansisches Recht im Spätmittelalter. An der Uni Kopenhagen promovierte Huang über Textilien des Hanseraums, ging für ein Jahr als Research Officer an die London School of Economics and Political Sciences, dann als Postdoc zurück nach Kopenhagen. (ps)
War das auch in Leipzig so, wo Ihre Familie kurz nach der Wende hinzog?
Im Großen und Ganzen schon. Irgendwann in meiner Pubertät waren wir zum Beispiel mit ein paar Klassenkameraden zelten an einem See. Da kam dann ein Nazi dazu, mit Bomberjacke, wie man sich das so vorstellt. Ich war ganz erstarrt, aber dann hat er mir – dem „netten asiatischen Mädel“ – seine Bomberjacke um die Schultern gelegt, weil mir kalt war.
Es hätte auch anders kommen können.
Vielleicht. Anfangs, als wir nach Leipzig kamen – ich muss 9 oder 10 gewesen sein – wurde ich mal „Fidschi“ genannt. So nannten viele Ostdeutsche die vietnamesischen Vertragsarbeiter aus DDR-Zeiten. Ich habe das Wort dort zum ersten Mal gehört und auch nicht gleich begriffen. An solche Szenen kann ich mich nur schwach erinnern und auch nur für die ersten Jahre. Ansonsten kam ich als Asiatin eher positiv weg, hatte vielleicht eher einen „Besonderheitsbonus“.
Hatten Sie den auch in Ihrem Peking-Jahr? Als Kind, das wie alle anderen aussah, aber deren Sprache nicht sprach?
Das war für meine Schwester und mich schon deshalb kein Problem, weil wir die Deutsche Schule Peking besucht haben. Dort waren deutsche Kinder aus verschiedensten Kontexten. Sehr eindrücklich erinnere ich mich an den Empfang: Als ich am ersten Tag in die Klasse kam, waren alle sehr herzlich. Weil alle die Erfahrung gemacht hatten, neu und woanders zu sein. Fremdheit war kein Thema, denn jeder kam irgendwo anders her. Und den Alltag der Einheimischen haben wir nur gelegentlich geteilt, weil wir recht abgeschottet in einem Gebäudekomplex für Ausländer wohnten.
Seit 2017 leitet Huang die Lübecker Forschungsstelle für die Geschichte der Hanse und des Ostseeraums. Sie ist dem dortigen Europäischen Hansemuseum angegliedert und wurde 1993 vom 2021 verstorbenen Lübecker Hanseforscher Rolf Hammel-Kiesow gegründet. Er gilt als „geistiger Vater“ des Hansemuseums. Die Forschungsstelle begleitet unter anderem die Museumsarbeit. Die aktuelle Ausstellung „Guter Stoff. Textile Welten von der Hansezeit bis heute“ etwa knüpft an Angela Huangs Doktorarbeit über Textilien des Hanseraums an. (ps)
Fahren Sie gelegentlich noch nach Taiwan oder China?
Zu meinem Vater habe ich keinen Kontakt – das hat sich mit der Zeit verlaufen. Meine Schwester, die viele Jahre in China gearbeitet hat, habe ich allerdings ein paar Mal besucht. Ich bin immer mal gern da. Es ist ein schönes, spannendes Land, und ich mag das Essen. Aber ich spreche die Sprache nicht. Und von dieser Idee, „Ich bin Halb-Asiatin, und irgendwie hat das etwas mit mir zu tun“, habe ich mich schon bei meinem ersten Besuch mit 16 verabschiedet. Ich spürte sehr deutlich, dass ich dank meiner Sozialisation durch und durch Europäerin bin.
Die Sprache zu lernen, hat Sie nie gereizt?
Ja, irgendwann mal als Schülerin, das war diese Phase der Identitätssuche. Ich würde aber von mir behaupten, dass ich kein Sprachentyp bin. Es gibt Leute, die kommen da schnell rein, trauen sich loszusprechen. Ich bin da zurückgenommener. Außerdem muss ich immer wissen, wo ich die Sprache einsetzen kann. Ich habe ja in der Schule in Leipzig auch ein paar Jahre Russisch gelernt. Davon ist nicht allzu viel hängen geblieben. Aber unabhängig von der derzeitigen politischen Lage wäre das eine Sprache, die in meinem Forschungsbereich durchaus nützlich wäre. Trotzdem werde ich es wohl nicht tun. Denn bis man mit Sprache wirklich etwas anfangen kann, ist es zumindest für mich ein langer Weg. Da reizt es mich mehr, mich in mittelniederdeutsche Quellen einzulesen.
Die Sprache jener Hanse, die Sie so intensiv erforschen. Wann hat das angefangen?
Ich weiß nicht genau, wann das so richtig los ging. Ich wusste schon sehr früh, dass ich Geschichte studieren wollte. Ich erinnere mich, dass ich irgendwann im achten Schuljahr dachte, das finde ich spannend, das macht Spaß. Wenn wir wichtige Ereignisse besprachen, wollte ich wissen, woher kommt das, wie sind die Zusammenhänge? Das galt besonders für Stadtgeschichte. Im zweiten Studiensemester hatte ich eine Übung zu Hansegeschichte, und dann hat sich mein Interesse schnell darauf verdichtet.
Warum?
Damals hätte ich es nicht sagen können. Heute weiß ich, dass mich Städte als Lebensräume für uns und alles, was unser Zusammenleben ausmacht, faszinieren. Und im Mittelalter, dem Zeitalter der Hanse, gab es ja vom 10. bis zum 13. Jahrhundert eine ausgesprochene Urbanisierungswelle, und die Städte wurden für einige Jahrhunderte so stark und eigenständig wie nie zuvor und danach. Das fasziniert mich sehr.
Was war die Hanse: ein Bündnis von Wirtschaftsegoisten?
Die Hanse war – und das ist bemerkenswert und einmalig – ein rund 500 Jahre währender freiwilliger Zusammenschluss von Kaufleuten und später ihren Heimatstädten zur gemeinsamen Wahrung von Wirtschaftsinteressen. Der Handelsraum, in dem die Kaufleute unterwegs waren, umfasste weite Teile Nordeuropas und reichte teilweise bis nach Südeuropa. Insbesondere aber beherrschten die Hansekaufleute und -städte den Ostseeraum. Die Hansestädte selbst liegen im weiten Gebiet zwischen den heutigen Niederlanden und Estland. Jenseits der Küste – das wissen viele nicht – gehören auch Städte wie Herford in Westfalen oder Halle an der Saale dazu. Gemeinsam unterhielt man an wichtigen Handelsplätzen für den Fernhandel vier Niederlassungen bzw. Kontore: in Bergen, Brügge, London und Nowgorod. Die Hansekaufleute und ihre Stadtregierungen betrieben völlig eigenständig Wirtschaftspolitik und haben die europäischen Handelsbeziehungen über Jahrhunderte maßgeblich geprägt. Diese lange und breite Wirkung macht die Hansegeschichte so faszinierend und einmalig.
Aber war es ein Solidaritätsbündnis?
Wichtig ist vor allem, die Freiwilligkeit dieser langen Zusammenarbeit zu betonen. Von ihrer Grundhaltung her waren die Kaufleute einerseits „Egoisten“ mit Eigeninteressen. Hätte es außerdem aber keine gemeinsamen Interessen gegeben, gäbe es keine Hansegeschichte. Der Begriff „Solidarität“ ginge aber sicher zu weit. Das war kein Wohlfühlverein, sondern eine Privilegiengemeinschaft. Es ging um Sonderrechte.
Welche zum Beispiel?
Man handelte etwa aus, dass nicht der jeweilige Landesherr nach Schiffbruch die angespülten Waren bekam, sondern sie den Kaufleuten zurückerstattet wurden. Und in Brügge ließ man sich speziell das Recht zusprechen, dass auch an Sonntagen Schiffe be- und entladen werden konnten. Und natürlich wollten die Hansekaufleute möglichst wenig und keine neuen Zölle auf ex- und importierte Waren zahlen.
Wie konnten sie das durchsetzen?
Meist ging es um das Aushandeln von Kompromissen, aber wenn Konflikte eskalierten, konnte man auch zu drastischeren Mitteln greifen. Im Englandhandel zum Beispiel stritt man sich seit dem späten 14. Jahrhundert um die Privilegien, vor allem festgesetzte niedrige Zölle, die die Hansekaufleute seit um 1300 vom König zugesprochen bekommen hatten. Diese Rechte wurden immer wieder infrage gestellt. Vor allem wollten die englischen Kaufleute entsprechende Privilegien für den Ostseeraum bekommen – das war den Hansekaufleuten natürlich nicht recht. Um sich durchzusetzen, beschlossen die Hansestädte mehrfach Handelsblockaden gegen England. Früher oder später erreichte man durch gemeinsames Handeln eine Wiederherstellung der Privilegien.
Womit genau handelten die Hansekaufleute?
Mit allem, was es so gab! Aber es gibt Waren, die den Handel in besonderer Weise prägen. England und Flandern exportierten vor allem Textilien. Im Austausch bekam England etwa Holz und Getreide aus Preußen (dem heutigen Polen). Aus Nowgorod wurden Pelze und auch Wachs nach Westen gehandelt. Gerade Wachs war im christlichen Europa zentral für die Beleuchtung der Kirchen. Dann gab es die „Nord-Süd-Fischgräte“, die besonders wichtig war für den Lübecker Handel: Aus dem norwegischen Bergen kam Stockfisch nach Europa. Auch auf Ostseehering, der im dänischen Schonen mit Lüneburger Salz haltbar gemacht wurde, baute Lübecks Wohlstand mit auf. Die Fastenspeise Fisch war im christlichen Europa ja eine wichtige Handelsware. Brügge wiederum war im Mittelalter ein Weltmarkt. Da kam alles hin – Gewürze und Früchte aus Südeuropa, teils ägyptische Baumwolle, aber eben auch die Produkte des Ostseeraums. Auch die Hansestädte selbst produzierten Waren für den hansischen Handel: Bier aus Hamburg und Einbeck, Metallwaren aus Goslar und Braunschweig, Textilien aus Göttingen, Dortmund und Osnabrück zum Beispiel.
Haben die Hansekaufleute auch strukturelle Neuerungen eingeführt?
Ich bin immer vorsichtig mit „Neuerungen“. Ich habe den Eindruck, dass bei historischen Phänomenen oft gewünscht wird, dass sie etwas Neues schaffen. Dabei sind die Herausforderungen, denen die Hanse durch Wirtschaftspolitik zu begegnen versucht, ganz alltägliche im Handel des Mittelalters. Aber in der Tat schaffen die Hansestädte gemeinsam eine effektive Methode, um etwa Qualitätsstandards sicherzustellen.
Ein Beispiel?
Wenn Sie als Lübecker Kaufmann einen Ballen Tuch haben, der bis Nowgorod gehandelt werden soll und unterwegs durch drei Hände geht: Wie sorgen Sie dafür, dass das Produkt, das ankommt, von guter Qualität ist? Wer kommuniziert bei Problemen und wo werden sie verhandelt? Über den weiten Handelsraum solche Fragen zu lösen: Dafür sind zum einen die Kontore da, die Probleme vor Ort sammeln und ggf. versuchen, sie auch lokal zu lösen. Zum anderen gibt es den Hansetag – eine nach Bedarf mehr oder weniger regelmäßig stattfindende Versammlung der Hansestädte. Gerade der Hansetag ist ein wichtiges Mittel, um über Jahrhunderte gemeinsame Handelspolitik zu betreiben. Und da haben die Hansekaufleute ein – soweit ich weiß, in Dauer und Reichweite einzigartiges – Modell gefunden, dass solche Probleme für die Wirtschaftsakteure löste.
Wie funktionierte das?
Sagen wir in Nowgorod gehen Beschwerden über flandrisches Tuch ein. Diese Beschwerden werden im Kontor Nowgorod gesammelt, an den Hansetag weitergeleitet und dort verhandelt. Wenn sie oft auftreten, werden sie ans Brügger Kontor weitergeleitet, das im Namen der Hansestädte und -kaufleute zur Stadtregierung sagt: „So geht das nicht, bitte haltet euch an die Vorgaben.“ Wenn das Problem weiter besteht, sagt man: „Wenn es sich nicht ändert, handeln wir nicht mehr mit eurem Tuch.“ Das ist ein Druckmittel, das ein Kollektiv besser einsetzen kann als ein Einzelner. Und dieses Prozedere ist etwas, das Hansestädte miteinander in besonderer Art leisten.
Welche Rolle spielten die Frauen der Hansekaufleute? Führten sie die Geschäfte, wenn der Mann auf Reisen war?
Darüber weiß ich nicht viel. Die Quellen verausgaben sich nicht gerade, zudem ist das Thema relativ neu in der Forschung. Wir wissen von Margarete Veckinchusen, die die Geschäfte für ihren Ehemann, den bekannten Hansekaufmann Hildebrand Veckinchusen, führte, während er im Schuldturm saß. Überliefert sind die Briefe zwischen Margarete und ihrem Mann nur, weil sie für das Gerichtsverfahren eingezogen wurden. Auch andere Kaufleute fuhren zwar selten mit ihrer Ladung mit, hielten sich aber für längere Zeiträume an anderen Städten auf – dann kümmerte sich die Ehefrau um die Geschäfte am Wohnort. Aber hier müssen wir noch weiterforschen.
Gab es in Hansestädten weniger Arme als anderswo?
Das ist kaum überliefert und schwer zu erforschen. Man könnte allenfalls schauen, wie viele Armenhäuser es gab und ob das Problem diskutiert wurde. Denn es gab ja keinen regelmäßigen Zensus. Die Einkommensverteilung bzw. Sozialtopografie war von Stadt zu Stadt unterschiedlich. Aber das Wirtschaftsprofil einer Stadt sagt natürlich einiges über die soziale Struktur. Ein Indiz ist der Zugang zu politischen Ämtern: In Lübeck hatte die Kaufmannschaft als Elite auch das politische Geschehen fest im Griff. In anderen Städten hatte die Handwerkerschaft mehr Zugang zu politischen Ämtern. Was normalerweise bedeutet, dass sie wohlhabender ist. Aber es gab immer auch die Armen. Hanse bedeutet ja nicht Wohlstand für alle, sondern zunächst nur für wenige, nämlich die Kaufleute.
Wird die Hanse heute zu Unrecht glorifiziert?
„Glorifiziert“ ist ein starkes Wort. Aber die Konnotationen im heutigen Diskurs sind schon bemerkenswert. Und als Historikerin sage ich, man muss darauf achten, dass man Geschichte nicht instrumentalisiert. Dass man nicht sagt: „Mit der Hanse war ja alles so schön, und heute ist es auch schön, mit der Hanse als Kulturbringerin.“ Sicherlich trug die Hanse auch zur Mobilität von Kultur bei. Aber die Hanse hieß nicht umsonst „Deutsche Hanse“, weil sie ein exklusiver Zusammenschluss (nieder)deutscher Kaufleute war, der auch knallhart sein konnte. Teils haben Handelsblockaden gegen Norwegen stark zu Hungersnöten beigetragen. Auch lässt sich historisch nicht nachweisen, dass die Hanse Vorläuferin der EU war. Die Hanse vertrat ausschließlich Wirtschaftsinteressen, die EU außerdem ein Wertesystem.
1669 fand in Lübeck der letzte Hansetag statt. Woran ist das Bündnis gescheitert?
Von „Scheitern“ würde ich nicht sprechen. Wenn ein Phänomen dazu da ist, bestimmte Probleme zu lösen, muss man sich fragen, ob diese Probleme so noch bestehen und ob die Organisation noch adäquat darauf reagieren kann. Als wirtschaftspolitischer Zusammenschluss „scheiterten“ die Hansestädte allenfalls an den Umständen der Zeit, die nun stärker staatlich geprägt war. Die Fürsten versuchten immer erfolgreicher, sich Städte untertan zu machen: Die Städte sollen nicht mehr wirtschaftspolitisch eigenständig agieren. Wenn die Stadtherren das nicht mehr zulassen – wie in Braunschweig, das 1671 nach langem Widerstand endgültig unter die Fuchtel des Landesherrn geriet –, ist es aus mit der Autonomie. Und ohne autonome Städte keine Hanse.
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