piwik no script img

Forscher über Arbeit in Frankreich„Bis zu 500.000 neue Stellen“

Die Franzosen werden zu Unrecht als faul dargestellt, sagt der Arbeitsmarktforscher Steffen Lehndorff. Im Schnitt haben Franzosen eine 39-Stunden-Woche.

Französische Gewerkschaftler demonstrieren für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze Bild: dpa
Interview von Martin Reeh und Martin Reeh

taz: Herr Lehndorff, der US-Unternehmer Maurice Taylor hat die Franzosen beschuldigt, nur drei Stunden am Tag zu arbeiten. Die Süddeutsche schreibt von der „gelähmten Nation“. Sind die Franzosen mit ihrer 35-Stunden-Woche zu faul, um mit Deutschland noch mithalten zu können?

Steffen Lehndorff: Die Diskussion erinnert mich an die Vorbereitung der Agenda 2010 bei uns. Dabei ist der Unterschied bei den Durchschnittsarbeitszeiten nicht dramatisch. In Frankreich sind es bei den Vollzeitbeschäftigten etwas über 39 Stunden, in Deutschland knapp 41 Stunden.

Jetzt müssen Sie erklären, warum bei einer offiziellen 35-Stunden-Woche trotzdem im Durchschnitt 39 Stunden gearbeitet wird.

Kleine Betriebe haben nach wie vor eine gesetzliche 39-Stunden-Woche. Und dann muss man sich die verschiedenen Beschäftigtengruppen anschauen. 40 Prozent der in Vollzeit beschäftigten Arbeiter und Angestellten arbeiten 35 Stunden. Aber bei den höher Qualifizierten arbeiten viele deutlich über 40 Stunden, noch mehr als in Deutschland. Das betrifft vor allem Männer – und wurde unter Nicolas Sarkozy stark gefördert.

Wie?

Für die sogenannten cadres, das ist im deutschen Verständnis ungefähr die Ebene der Ingenieure, gibt es die Möglichkeit, Arbeitszeiten nicht auf Wochen-, sondern auf Jahresbasis zu vereinbaren. Sarkozy hat beschlossen, dass diese Jahresarbeitszeit gegen Bezahlung verlängert werden kann.

Bild: Carolin Weinkopff/Uni Duisburg-Essen
Im Interview: Steffen Lehndorff

war Leiter Arbeitszeit und Arbeitsorganisation des Instituts Arbeit und Qualifikation an der Universität Duisburg-Essen. Seit 2012 ist er offiziell im Ruhestand, ist aber weiter in der Forschung aktiv.

Abgesehen davon: Gibt es in Frankreich eine andere Vorstellung, wie viel man arbeiten soll? In Deutschland ist der neue Aufruf einiger Professoren für eine 30-Stunden-Woche sehr isoliert, selbst von der 35-Stunden-Woche lassen die Gewerkschaften die Finger.

In Frankreich gibt es zwar Unzufriedenheit mit Arbeitsverdichtung und Flexibilisierung. Dennoch wollen die meisten Beschäftigten von der 35-Stunden-Woche nicht mehr weg, weil sie für viele im Alltag deutliche Verbesserungen gebracht hat. Sehr verbreitet ist die Umsetzung in Form freier Tage, etwa indem jeder zweite Freitag frei ist. Besonders für Frauen hat die Arbeitszeitverkürzung eine große Bedeutung, auch für hoch qualifizierte. Aus einem einfachen Grund: Französische Frauen sind stark vollzeitorientiert. Durch die 35-Stunden-Woche konnten viele von einer Teilzeit- in eine Vollzeitstelle wechseln.

Wie stark war denn der Beschäftigungseffekt?

Darüber gibt es natürlich einen wissenschaftlichen Streit, weil nie ganz klar ist, welche Einstellungen ohnehin vorgenommen worden wären. Die für mich ausgefeiltesten Simulationen gehen in eine Richtung von 400.000 bis 500.000 zusätzlichen Jobs durch die 35-Stunden-Woche von 1998 bis 2002. Dabei muss man berücksichtigen, dass es zu dieser Zeit, also unter der sozialistischen Regierung Jospin, in Frankreich ohnehin starke Wachstumsraten gab. Die Arbeitszeitverkürzung hat offensichtlich den Beschäftigungseffekt des Wachstums zusätzlich erhöht. Es gibt einen wunderbaren Aufsatz eines französischen Ökonomen, Olivier Blanchard, der heute Chefökonom des IWF ist – und damit sicher politisch unverdächtig: Keine Panik, unsere Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet, schreibt er.

Und deshalb hat Sarkozy die 35-Stunden-Woche nicht abgeschafft?

Erstens war die 35-Stunden-Woche dafür in der Bevölkerung zu populär. Und zweitens wollten auch viele Betriebe nicht mehr davon weg, weil sie die Organisation inzwischen umgestellt und damit gute Erfahrungen gemacht hatten.

Frankreich solle endlich Sozialreformen verabschieden, heißt der Tenor in Deutschland. Das hieße vermutlich auch einen Abschied von der 35-Stunden-Woche. Was ist Ihrer Ansicht nach Ursache für die ökonomischen Probleme in Frankreich?

Frankreichs Wirtschaft ist seit Langem stärker binnenmarktorientiert als Deutschland und damit bis vor zehn Jahren nicht schlecht gefahren. Aber dennoch ist die Exportschwäche ein Problem. So etwas wie den Maschinenbau, in Deutschland die zweite große Exportbranche neben der Autoindustrie, gibt es in Frankreich kaum. Und für Forschung und Entwicklung wird im Verhältnis zu den ausgeschütteten Gewinnen deutlich weniger ausgegeben als vor zehn Jahren. Oder nehmen wir die Autoindustrie: Da hat das Management die Entwicklung im oberen Preissegment über Jahrzehnte hinweg verspielt. In den 50er und 60er Jahren war der Citroën DS ein Symbol für eine neue Art des Autos. Das Managementversagen liegt auch an dem elitistischen Ausbildungssystem, das in der Arbeitsorganisation zu einer Art Kastensystem führt.

Warum?

Die Berufsbildung in Frankreich ist schwach, und der deutsche Weg etwa vom Facharbeiter zum Meister, dann zum Techniker und vielleicht zum Ingenieur ist dort nahezu unbekannt. Dort entscheidet der Abschluss möglichst von der richtigen Uni über den Einstieg auf der Karriereleiter. Ein solches System ist für die Innovation der Unternehmen verheerend, weil die Angestellten mangels Aufstiegschancen schwerer zu motivieren sind.

Wenn die 35-Stunden-Woche in Frankreich so positive Effekte gehabt hat: Warum haben Sie den deutschen Aufruf für die 30-Stunden-Woche nicht unterschrieben?

Die Forderung nach der 30-Stunden-Woche für alle finde ich etwas schematisch. Das Wie fände ich interessanter: Wie kann die Ungleichverteilung der Arbeitszeiten zwischen Männern und Frauen überwunden werden? Wie können die Arbeitszeiten näher an die Tarifverträge herangeführt werden? Reizvoll fände ich etwa eine Debatte über die Einführung einer gesetzlichen 40-Stunden-Woche. Natürlich würden die Arbeitgeber den Untergang Deutschlands prophezeien. Aber überlange Arbeitszeiten und Burn-out könnten in vielen Betrieben zum Thema werden. Und es würden Lösungen gefunden und Betriebsvereinbarungen abgeschlossen werden – wie in Frankreich.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

6 Kommentare

 / 
  • K
    Konrad

    @ Rita

     

    Ein durchaus berechtigeter Einwand.

    Aber, der Zusammenhang zwischen erhöhter Automatisierung und 35 Stunden-Woche ist wissenschaftlich gut durchleuchtet. Man spricht hier von "Automatisierungsdruck", d.h. die schnelle Automatisierung, weil man eben nicht noch 5-10 Jahre warten kann, da ansonsten die Lohnkosten, das Betriebsergebnis zu stark belasten. Das ist ein unglaublich einfacher kalkulatorischer Faktor: lohnt es sich schnell zu automatisieren, oder ist die manuelle (menschliche) Lohnarbeit konkurrenzfähig.

    Aber Sie haben selbstverständlich recht, dass langfristig Automatisierungstechniken sich immer durchsetzen, da die Technik permanent verbessert wird und langfristig gegen manuelle Arbeit obsiegt. ABER bei solchen Wahnsinnsprojekten wie der 30-Stunden-Woche wird der Kostendruck über Nacht um 20-25% höher. Das geht nicht, da verliert das ganze Land... leider...

    Ein kurzer persönlicher Kommentar: Ich arebite selbst im Maschninenbau und fände persönlich eine 28-Stunden-Woche am allerbesten... Aber wenn ich dann Zahlen und Fakten abgleiche und zu dem Ergebnis komme: Die wirtschaftliche Produktion am Standort, viele Jobs, velleicht sogar der ganze Standort sind gefährdet (weil ich eben die Vergleichszahlen aus Rumänien, China und Indien kenne (sogar Österreich liegt heute schon besser)), ja dann vergeht mir schnell die Lust darauf. (LEIDER!!!)

     

    Beste Grüße

  • R
    rita

    @ Konrad:

     

    Wie wollen Sie den direkten Zusammenhang zwischen 35-Stunden-Woche und verstärkter Automatisierung einfacher Arbeitsplätze belegen? Diese verstärkte Automatisierung hat bereits in den 80iger Jahren begonnen und ist einfach dem technischen Fortschritt geschuldet. Wollen Sie uns wirklich weiß machen, dass die Firmen auf den Einsatz neuer Techniken verzichtet hätten ohne die Einführung der 35-Stunden Woche?

  • M
    mike

    Immer wieder intressant, als Mensch der sich nie mit den Gewerkschaften gemein gemacht hat sondern von Haus zu einem selbst denkenden Menschen erzogen wurde bin ich immer wieder erstaunt wie simple die Welt in den Augen der deutschen Linken ist, die guten aufrechten Arbeiter gegen die Ausbeuterischen Chefs. Ich als freiberufler stosse oft auf festangestellte Mitarbeiter die mir die Haare zu Berge stehen lassen, und das ist einer der Gründe warum ich niemals jemanden einstellen würde. Ich verzichte lieber auf Umsatz und Gewinn als mir sowas anzutun. Man schläft einfach ruhiger.

  • C
    Celsus

    Kaum wurde eine Regierung gewählt, die einem Industrieboss aus den USA nicht genehm war, wetterte der doch über die Faulheit der Franzosen. Ähnliche Vorgänge kennen wir doch aus Deutschland:

     

    Was wurde nicht über die DDR und die dortigen Verhältnisse gelästet. Bis zu dem Zeitpunkt, als die CDU bewusst ihre Kampagne stoppte, weil ihr aufging, wie sehr die Länder bereits CDU-regiert waren, ohne dass die Änderungen eingetreten waren, die wünschenswert waren.

     

    Jetzt also das Sozialisten-Bashing für Frankreich. In Wahrheit zielt das gegen das Wahlverhalten. Wer allerdings das Verhalten der US-Firmen kennt, die aus immer weniger Personal, das zunehmend schlechter bezahlt wird, immer mehr Leistung herauspresst, kann Frankreich da nur beglückwunscht werden.

     

    Und ich kann den Franzosen nur empfehlen, derartige Firmen auch jenseits von durch die Presse aufgedeckten Skandalen die Firmen zu überwachen. Blut klebt an den Händen der Regierenden, die solche Zustände möglich machten und dann auch noch schnell wegschauten.

     

    In Deutschland stellt sich die zuständige Ministerin ja jetzt - aber damit zu spät - an die Spitze der Überprüfer. Aber nur in dem Einzelfall. Auf die Fortsetzung der Berichterstattung über Lerneffekte der Ministerin wäre ich noch gespannt. Am Ende planen die den heimlichen Wiedereinstieg in desolate Verhältnisse.

  • K
    Konrad

    Deutschland führte die 35-Stunden-Woche 1995 in der Metall- und Elektroindustrie ein. Die Folge: verstärkte Automatisierung von einfachen Arbeitsplätzen, Verlagerung hunderttausender Arbeitsplätze nach Asien und Osteuropa, im Endeffekt 5,2 Millionen Arbeitslose in Deutschland, dadurch ergaben sich massive Steuerausfälle und explodierende Sozialkosten. Am Schluß musste eine Rot-Grüne Regierung (mit dem Rücken zur Wand) die Hartz-Reformen einführen, um den wirtschaftlichen Einbruch abzuwenden.

    Die Einführung einer 30-Stunden Woche in Deutschland wird von vielen befürwortet, z.B.: der chinesischen Industrie, Österreich und der Schweiz und selbstverständlich den osteuropäischen Staaten. Dort würden sich neue massive Wachstumsimpulse breit machen und hunderte neue Fabriken entstehen bzw. bestehende Standorte erweitert werden. Und Deutschland? Nie wieder Deutschland (als Investitionsstandort)...

  • E
    ello

    Wer jemals mit Franzosen beruflich zu tun hatte, weiß, wovon Taylor redet: überheblich, aber von der Sache keine Ahnung, die Arbeit sollen die anderen machen. Lagerfeld hat schon recht: außer Käse und Mode bringen die nix mehr zustande.