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Formal radikaler AussteigerromanDas wilde Leben im Nordosten

Thomas Kunst hat eine vertrackt versponnene Aussteigergeschichte geschrieben. „Zandschower Klinken“ beschwört eine renitente Provinz-Identität.

Schreibt über einen melancholischen Antihelden: Thomas Kunst Foto: Franziska Reck

Solche Karrieren gibt es im Literaturbetrieb immer seltener: Viele Jahre hat der 1965 in Stralsund geborene Schriftsteller Thomas Kunst in mittelgroßen und kleineren Verlagen veröffentlicht. Seine Gedichtbände und Romane, die immer schon literarische Wagnisse eingingen, waren nur einem kleineren Publikum bekannt.

Mit seinem viel gelobten Gedichtband „Kolonien und Manschettenknöpfe“ darf er sich seit 2017 Suhrkamp-Autor nennen, was angesichts seiner artifiziellen Werke fast schon wie eine unglaubliche Aufstiegsstory klingt. Wahrscheinlich konnte sein neuer Roman „Zandschower Klinken“ tatsächlich nur in diesem Publikumsverlag erscheinen, der noch immer auch literarische Experimente ermöglicht.

Der Einstieg in diesen unkonventionellen Roman aber wirkt auf den ersten Blick nahezu klassisch. Ein seltsamer Typ namens Bengt Claasen hat viel erlebt. Er war Lektor, Hundetrainer und Taxifahrer in Kolumbien. Zuletzt hat er sich um die demenzkranken Eltern gekümmert. Eine große Liebe zerbrach, und einem geliebten Vierbeiner war auch nicht mehr zu helfen. Jetzt möchte der dichtende Phantast ein neues Leben beginnen, in dem andere Regeln gelten, am liebsten alles auf den Kopf gestellt wird.

Der Versuch, doch noch eine bürgerliche Existenz aufzubauen, ist jedenfalls gescheitert: „Bengt Claasen hielt die Stellenangebote in seiner Region für beleidigende Vergeltungsmaßnahmen gegenüber den poetischen Bemühungen seiner dünnhäutigen, aber leidlich unakademischen Biografie. Wenn er das schon hörte und las. Sie bringen mit. Hierüber sollten sie verfügen. […] Claasen musste sich schleunigst um eine neue Vergangenheit kümmern, wenn er es im Leben noch zu etwas bringen wollte.“

Der Roman

Thomas Kunst: „Zandschower Klinken“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 254 Seiten, 22 Euro

So macht sich der melancholische Antiheld auf die Suche nach einem Leben, in dem die Schönheit der Fiktion zumindest zeitweilig über die raue Wirklichkeit siegen kann. Er fordert das Schicksal heraus, und das Halsband der verstorbenen Hündin soll ihm als Orakel dienen. Er fährt los, und zwar nicht schnell, sondern ganz besonders langsam.

Provokation für Autofahrer

Claasen ist eine rollende Provokation für alle anderen Verkehrsteilnehmer, die sich wahrscheinlich noch mehr aufregen würden, wenn sie wüssten, warum dieser Kerl so gemächlich über die A 2 tuckert: „Claasen hat sich vorgenommen, sein Auto so vorsichtig, langsam und gleichmäßig zu bewegen, dass das Halsband so lange wie möglich auf dem Armaturenbrett liegen bleibt. An der Stelle, an der es herunterfällt, will er anhalten und ein neues Leben beginnen.“

Als das Halsband auf die Fußbodenmatte fällt, führt die Ausfahrt nach Zandschow. Ein seltsames Dorf in der nordostdeutschen Provinz. Auf der Landkarte wird man dieses Kaff nicht finden.

Für Claasen ist es sofort ein Sehnsuchtsort, zumal ihm vieles bekannt vorkommt. Ein Feuerlöschteich im Zentrum. Wohncontainer. Apfelbäume. Und ein Getränkeshop, in dem exotische Biere im Regal stehen. Kuriose Leute wie die Gebrüder Grabosch sitzen tags wie nachts am Teich, den sie einen Ozean nennen. Die Menschen haben die große, weite Welt nach Zandschow geholt. Sie feiern ausgelassene Feste, zelebrieren Festspiele, die aus Funk und Fernsehen bekannt sind.

Bizarre Rituale mit Plastikschwänen

Manchmal erfinden sie auch bizarre Rituale: „Zwanzig Zandschower setzen an der Küste zwanzig identische Plastikschwäne aus und übernehmen zwei Stunden lang die Patenschaft über sie, indem sie sich an Land bewegen wie die Tiere auf dem Wasser.“

Die Welt, in der Bengt Claasen sich nun heimisch fühlt, ist so verrückt wie lustig, so utopisch wie real. Vieles findet in „umgekehrter Reihenfolge“ statt. Was auch immer das im Einzelfall heißt.

In Zandschow ist jedenfalls alles wahrhaftig und metaphorisch zugleich. Das beginnt schon beim Ortsnamen, in dem düstere Seiten der Menschheitsgeschichte eingeschrieben sind. Die Zandsch waren schwarze Sklaven, die aus Ostafrika verschleppt wurden und im heutigen Irak in den Salzsümpfen schuften mussten. Zandschow ist damit auch als eine Art Sansibar zu verstehen, nur dass von der ostdeutschen Trauminsel, die Thomas Kunst beschreibt, keine Sklaven mehr in Richtung Arabien verschifft werden.

Widerständige und Träumer

Hier haben sich Widerständige und Träumer versammelt, die dem Materialismus und der Perfektion abgeschworen haben: „Wir erfinden eine Dynastie der Fehlbarkeit. Wir lassen mit einem Gedicht die Mittagspause der Regierung ausfallen. Wir sind noch nicht so weit. Wir lieben Rachefilme auf dem Lande. Wir verachten Liebesfilme in den Städten. Wir haben Grund zu der Annahme, dass unser Dasein nicht ernst genommen wird.“

Es ist kein Zufall, dass die Zandschower in ihrer renitenten Provinz-Identität auch an Frankreichs Gelbwesten erinnern und das grelle Cover des Buchs dementsprechend eingefärbt ist. Der selbstbewusste Regionalbezug, der sich doch internationalistisch gibt, spiegelt sich auch in dem zweiten, nicht minder sonderbaren Titelwort.

Mit den Klinken sind nicht nur die Türgriffe gemeint, die den Eintritt in die Zandschower Anderswelt ermöglichen. Der Begriff spielt auch auf ein bekanntes Kliff an, nämlich die Wissower Klinken auf der Insel Rügen, eine monumentale Kreideformation, die mittlerweile ins Meer gestürzt ist.

Streckenweise rätselhaft

Das alles wird in dem streckenweise rätselhaften Roman übrigens nicht explizit erklärt. Denn das Literarische ist ja hier die neue Realität. Wenn die Zandschower meinen, ihr Feuerlöschteich sei ein großes Meer und ein paar Steinbrocken seien eine imposante Küste, dann handelt es sich durchaus um eine längst realisierte Zukunftsvision, die mittlerweile Neid, Missgunst und sogar Hass heraufbeschwört: „Die gloriosen Verheißungen vom Leben auf dem Lande. Freund und Genussfähigkeit, die sich auf Armut und Phantasie gründen, werden als gesellschaftliche Gefahr eingestuft.“

Der große Witz dieses in jeder Hinsicht radikalen Romans ist nun, dass Thomas Kunst für die Geschichte seiner anarchistischen Landkommune eine passende Sprache gefunden hat, nämlich einen so wilden Stil, der ebenfalls mit jeder Erzählkonvention bricht. Mal ist der Text in der ersten, zwischendurch in der zweiten, dann wieder in der dritten Person gehalten. Singular und Plural wechseln sich ständig ab, als gehöre das Individuum, das berichtet, auch formal­ästhetisch zu einem Kollektiv. Mal gibt es eine personale, dann wieder eine auktoriale Erzählperspektive.

Auch die Textformen ändern sich ständig. Rückblicke auf Claasens Familiengeschichte wechseln sich mit Reiseerinnerungen ab. Nüchterne Bildbeschreibungen folgen wahnwitzigen Tagebucheinträgen. Mal handelt es sich um ein literarisches Roadmovie, dann wieder um einen musikpoetischen Monolog. Motive und Sätze werden – wie in einer barocken Partitur – ständig wiederholt und variiert. Die Sprache entwickelt zuweilen ein Eigenleben, scheint sich vom Autor emanzipiert zu haben.

Brüderchen und Schwesterchen

Kaum hat man den Eindruck, eine Reprise sei nur zufällig gesetzt, kommt der Schriftsteller mit einer weiteren, durchaus wichtigen Wendung um die Ecke. Der Roman ist auch als eine Neuformulierung von „Brüderchen und Schwesterchen“ zu lesen, dem Märchenklassiker der Brüder Grimm. Darin wird das Brüderchen, das von einer verhexten Quelle trinkt, in ein Reh verwandelt.

Wenn Bengt Claasen über seine Familie nachdenkt, das innige Verhältnis zur Mutter und die Kälte des Vaters zu ergründen versucht, kommen noch andere Märchen ins Spiel, die von Verwandlungsängsten und Erlösungsträumen in schwierigen Eltern-Kind-Konstellationen handeln und die immer auch ein Ursprung für die Literatur sind: „Du hast aus mir mit deiner ungezügelten Liebe ein außerordentliches Reh gemacht. […] Kein Vater, der meine Zeugnisse oder Inlandseinsatze an der Küste kontrollierte. Bis ich sechzehn war, habe ich mit Indianern gespielt, in den Gebirgen umgekippter Sessel, in den getrockneten Flussläufen von Blechautobahnen und Teppichverwerfungen. Mit siebzehn war ich das erste Reh in Norddeutschland, das Gedichte schreiben wollte.“

Lustvolle Überforderung

Die Schönheit dieses Romans besteht also in der lustvollen Überforderung. Thomas Kunst hat mit „Zandschower Klinken“ ein Werk vorgelegt, das so viele Verweise und Zitate verarbeitet, dass es einem schwindelig werden kann und soll. Der Dichter und Romanautor ist ein Wort- und Ideensammler, der Sporthistorie mit Musikgeschichte verschränkt und mediale Ereignisse in der DDR mit aktuellen Diskursen kombiniert.

Vor allem aber propagiert er ein Reich der literarischen Freiheit, in dem der ästhetische Glutkern nicht mit zwei, drei Hinweisen erklärt oder interpretiert werden kann. Thomas Kunst ist ein furchtloser Außenseiter im hiesigen Literaturbetrieb, ein Berserker der fantasievollen Zärtlichkeit.

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