■ Folter: Lebenslanges Trauma
Jedes Klickgeräusch in der U-Bahn löst Panik aus, der Geruch von Schweiß ruft gräßliche Erinnerungen hervor, jede unvermutete Berührung läßt bis ins Mark erstarren – ein Leben in ständiger Habachtstellung und Rastlosigkeit, zwischen Selbstzerstörung und Wut, Angst und Sichnichtwiedererkennen. „Wer gefoltert wurde, wird nicht mehr heimisch in der Welt“, hat Jean Amery dieses lebenslange Trauma beschrieben. Vom schwierigen, oft erfolglosen Versuch, sich nach Folter wenigstens ein Stück dieser Welt und der eigenen Person wiederanzueignen, handelt ein eben erschienenes Buch. MitarbeiterInnen des „Berliner Behandlungszentrums für Folteropfer“ beschreiben die Erfahrungen aus vierjähriger Arbeit mit Patienten aus aller Herren Länder.
Mediziner, Psychologen, Sozialarbeiter und Körpertherapeuten schildern anhand von Fallbeispielen den mühsamen Weg, den sie „an der Seite der Überlebenden“ gehen. Ein Weg als Gratwanderung, der keinen Schritt zu weit gegangen werden darf, will man neue Traumatisierung vermeiden. Ein Weg, bei dem die Behandler oft selbst auf Schlingerkurs geraten, zwischen undistanziertem Mitgefühl und instinktiver Abwehr gegen den Leidensdruck der Patienten.
Und ein Weg, bei dem kleine Selbstverständlichkeiten schon zu Erfolgen werden: Wenn eine Kurdin, die mit dreizehn Jahren zum erstenmal gefoltert wurde und seitdem unter ständigen Kopfschmerzen leidet, während der Körpertherapie erstmals die permanente Muskelanspannung lockern kann. Wenn eine bosnische Patientin, die seit dem Übergriff serbischer Soldaten unter ständigen Angstattacken leidet, nicht mehr ständig kontrollieren muß, ob die Wohnungstür auch verschlossen ist. Wenn unter der Folter vergewaltigte Menschen ihren Körper wieder anfassen mögen. Wenn ein Flüchtling sagt: „Ich habe hier gelernt, Spuren meines Lebens anzusehen und sie festzuhalten. Ich sehe meine Zukunft mit neuen Augen.“ Immer wieder merkt man den Schilderungen an, daß sie bei ihrer Arbeit an die Grenzen ihrer psychischen Belastbarkeit stoßen. Daß sie dabei auch an Grenzen stoßen, die der deutsche Alltag den Flüchtlingen setzt, kommt leider recht kurz. Nur in einem Kapitel beschreibt ein Sozialpädagoge, wie in Deutschland den Überlebenden der Weg ins Leben schwergemacht wird: entwürdigende Unterbringung auf ein paar Heim-Quadratmetern, Angst vor Abschiebung, Kampf mit den Behörden um kleine humanitäre Selbstverständlichkeiten und Furcht vor Fremdenfeindlichkeit. Ein paar von diesen Akzenten hätte man sich auch in den Beiträgen der Mediziner und Psychotherapeuten gewünscht. Vera Gaserow
Graessner/Gurris/Pross (Hrsg.): „Folter. An der Seite der Überlebenden“. Beck Vlg., München 1996, 24 DM
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