Folk-Fiction durch KI: Kevin allein im Prompt
Künstliche Intelligenz erfindet Geschichten, die täuschend echt wirken. Jüngstes Beispiel ist ein Video vom Filmset von „Kevin allein in New York“.
S eit ungefähr zwei Jahren sammle ich in einem Ordner, den ich spontan „AI hereingefallen“ genannt habe, KI-Bilder und -Videos, auf die ich – nun ja – hereingefallen bin. Wenn ich mir die ersten Postings darin heute ansehe, kann ich kaum glauben, was ich einmal für wahr gehalten habe. Da gab es zum Beispiel diesen Gucci-Automaten in der New Yorker U-Bahn … als Marketing-Gag hätte ich es der Marke zugetraut!
Ein jüngeres Beispiel ist ein Video vom Filmset von Kevin allein in New York. Man sieht da etwa die McCallisters in einer Flugzeugattrappe vor einem Greenscreen. Zugegeben, ich habe diesem Video nur ganz kurz geglaubt. Fast schon automatisch öffne ich bei allen Inhalten, die mein Vertrauen erwecken, sofort den Kommentarbereich – in der Erwartung, dort die üblichen „Das ist AI“-Kommentare vorzufinden. Da sie sich mittlerweile unter nahezu allen Inhalten befinden, ist das allerdings auch nur bedingt aussagekräftig.
Wenige Stunden später begegnete mir im Feed dann ein Reaction-Video. Es war von einem Set-Designer, der ausführlich erklärte, warum die dargestellten Kulissen völlig unrealistisch seien. In seiner Kommentarspalte waren sich alle über die Funktion des KI-Videos einig – reinstes Engagement Bait! Das ist schon richtig, solche Clips triggern Likes, Shares und Kommentare. Aber warum funktionieren sie als Köder so gut, welche Sehnsucht wird damit bedient?
Der Wunsch, im heimatlichen Hafen noch mehr zu entdecken
Nun, einerseits sind sie – zumindest für all diejenigen, die mit „Kevin allein zu Haus“ und „Kevin allein in New York“ aufgewachsen sind – vertraut und gehören fest zur Vorweihnachtszeit. Gleichzeitig zeigen sie etwas, das man noch nicht gesehen hat. Sie befriedigen den Wunsch, dass der Kevin-Kosmos noch nicht abgeschlossen ist, dass es im heimatlichen Hafen noch mehr zu entdecken gibt.
Annekathrin Kohout: Die Autorin im taz Talk zu „Nerds. Eine Popkulturgeschichte“. Verlag C. H. Beck, München 2022, 272 Seiten, 16,95 Euro
Insofern fällt das Video zunächst in den Bereich der Fan-Fiction. Fans schreiben die Geschichten weiter, füllen Lücken, erfinden Vorgeschichten. Sie tun das mit Aufwand, Akribie, Fantasie und meistens unter sich, in Foren und auf Plattformen, die nur Eingeweihte kennen. Aber die Person, die das Kevin-Video erstellt hat, ist nicht unbedingt ein leidenschaftlicher Fan. Zumindest musste sie keinen weiteren Aufwand betreiben, um mit Sora 2 oder Nano Banana Pro die fiktiven Aufnahmen zu erstellen. Und die Millionen, die es schauen, sind es vermutlich auch nicht.
Vielleicht brauchen wir deshalb einen neuen Begriff für diese sich gerade rasant entwickelnde Rezeptionsweise und die dabei entstehenden KI-Kurzfiktionen. Ich würde vorschlagen: Folk-Fiction. Abgeleitet von Folklore, Erzählungen, die niemandem und allen gehören, die weitergegeben und variiert werden, ohne dass jemand nach den Autoren fragt.
Ein einziger Satz genügt
Folk-Fiction entsteht nicht in abgelegenen Fanfic-Foren, sondern im Prompt-Feld eines Generators und wird dann in den Feeds der großen Plattformen geteilt. Ein einziger Satz („Zeig mir das nie veröffentlichte Making-of von Kevin allein in New York“) reicht, und schon wird ein neuer Aspekt der Geschichte ersponnen. Das KI-Video lädt dazu ein, die vertraute Geschichte noch einmal neu als Erlebnisraum zu betreten, als hätte es diese Version der Vergangenheit wirklich gegeben. Genau wie früher bei Märchen: Alle dürfen mitreden, alle dürfen verändern, und niemand fragt nach dem Original.
Das Kevin-Video ist deshalb weder ein Marketing-Gag noch reiner Clickbait. Es ist eine Variante des Volksmärchens. Man erzählt sich, wie es wirklich war am Set, wie Kevin fast vom Kran gefallen wäre, wie Catherine O’Hara improvisierte. Und wir schauen hin, weil wir dabei sein wollen bei dieser kollektiven Erinnerung an ein Ereignis, das nie stattgefunden hat.
War ich enttäuscht, dass dieses Video nicht real war? Nicht wirklich. Vielleicht gehört zum Weihnachtsgefühl 2025 eben auch die Folk Fiction. All die Szenen, die nie gedreht wurden, aber jetzt existieren. Vielleicht schauen wir schon im nächsten Jahr eher tausend Spielarten von Folk-Fiction statt ein einziges Mal den Originalfilm.
Annekathrin Kohout ist Autorin und Kulturwissenschaftlerin in Leipzig.
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