Folgen der Sanktionen für Russland: Fackel statt Export
Ist Russland vom europäischen Markt wirklich so unabhängig, wie es Moskau stets behauptet? Eine Antwort liefert die Gazprom-Stadt Nowy Urengoi.
Nowy Urengoi ist die Gazprom-Stadt. Es gibt sie nur, weil sowjetische Wissenschaftler*innen in den 1960er Jahren hier eines der größten zusammenhängenden Gasfelder entdeckten. 230 Milliarden Kubikmeter Erdgas sollen hier jährlich gefördert werden. Das Geschichtsmuseum der Stadt zeigt, wohin das Gas gelangt. Auf der Karte mit den blau und rot blinkenden Lämpchen ist ein dichtes Geflecht rund um die Industriestadt zu sehen. Als wären die blauen „Adern“ aus Plastik ein Wollknäuel. Die dünnen Linien führen fast allesamt nach Europa, durch Belarus, durch die Ukraine sowie über Litauen und Polen nach Deutschland.
Die Menschen in Nowy Urengoi leben davon, dass Russland 28 Prozent seines Gases exportiert. Sie zählten darauf, dass fast 60 Prozent des Gases in Europa russisches Gas war – bis zum Krieg in der Ukraine, den auch hier im Norden niemand so nennen darf. Europa wendet sich nun ab vom billigen russischen Gas. Russland drosselt seine Liefermengen, es ist sein eingeübtes Druckmittel. Im russischen Staatsfernsehen erklären „Experten“ hämisch, welch „lächerliche und dumme Versuche“ die Europäische Union unternehme, um sich „selbst ins Knie“ zu schießen. „Wir haben den Trumpf in der Hand“, frohlockt da mancher und verweist nicht darauf, was Drosselungen auch für Russland bedeuten könnten.
Gas als politisches Instrument
Russland setzt Gas immer wieder als politisches Instrument ein. Weil es weiß, wie verletzlich – und wie abhängig – die Europäer in dieser Frage sind. Die „Gasowschtschiki“, wie die Gasarbeiter in Russland genannt werden, wussten stets damit umzugehen. Wenn Russland die Lieferungen einstellt, merken das die Menschen in der Region vor allem durch die vielen Flammen in der Gegend. Denn Gazprom lässt das zu viele Gas, das das Unternehmen nicht durch die Röhren jagen kann, schlicht abfackeln.
Was aber macht Russland langfristig mit dem Rohstoff, den es nicht verkaufen kann? Städte wie Nowy Urengoi – hier wohnen mehr als 100.000 Menschen – leben von den Einnahmen aus dem Gasgeschäft. Russlands Gasbranche ist zwar weniger als die Ölbranche auf Ersatzteile aus dem Westen angewiesen, an die es wegen der Sanktionen nicht mehr so einfach gelangen kann. Doch auf gewisse Einbrüche stellt sich die Branche dennoch ein. Selbst kremlloyale Experten sprechen vorsichtig davon, dass Betriebe womöglich eingestellt werden könnten und dass Bohrlöcher dicht gemacht würden.
Gas ist neben Öl die wichtigste Einnahmequelle des russischen Staatshaushalts. Momentan profitiert der Staat von hohen Preisen. Kann er kein Gas mehr exportieren, brechen diese Einnahmen ein. Dabei geht es nicht nur um Gazprom, sondern auch um etliche Steuereinnahmen, die damit zusammenhängen. Eine Alternative wäre, das Gas nach Asien zu exportieren, doch das ist gar nicht so einfach. Die Gaspipeline „Sila Sibiri“ nach China ist zwar lediglich zu 15 Prozent befüllt und das könnte aufgestockt werden.
Über diese Röhre wird aber bereits seit zehn Jahren verhandelt, Peking ist kein leichter Partner. Moskau schaut sich natürlich auch auf weiteren Märkten um und hat Gespräche über eine Pipeline nach Indien wieder aufgenommen. Seit den Sowjetzeiten gibt es die Idee, Indien über Zentralasien und Afghanistan mit Gas zu versorgen. Dies sind aber aufwendige und langwierige Pläne. So schnell lässt sich das Europageschäft nicht ersetzen.
Inwieweit sich die Gasgeschäfte auf die russische Wirtschaft auswirken, lässt sich allerdings schwer sagen, weil Russland im Zuge seiner „Spezialoperation“ in der Ukraine seit März keine Statistiken zu Wirtschaftszahlen mehr veröffentlicht.
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