Fluglärm in Deutschland: Lotsen leiten Airlines auf Abwege
Wo ein Flugzeug fliegt, entscheidet die Deutsche Flugsicherung. Dabei gibt es viel mehr Abweichungen als gedacht.
BERLIN taz | Viele Flugzeuge in Deutschland bewegen sich stark außerhalb festgelegter Flugkorridore. Nachvollziehbare Grundlagen, wie die zuständige staatseigene Deutsche Flugsicherung (DFS) die Flugrouten im täglichen Betrieb ändern darf, fehlten, der Lärmschutz stehe meist nicht im Vordergrund der Überlegungen der Fluglotsen.
Dies kritisieren die Grünen nach einer Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage, die der taz vorliegt. „Lärmminderung interessiert diese Regierung nicht“, sagt Stephan Kühn, verkehrspolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion.
Zwar legt die DFS mit Sitz im hessischen Langen für jeden Flughafen konkrete Routen für Starts und Landungen fest, die auf Karten einsehbar sind. Aufzeichnungen über tatsächliche Flugwege aber zeigen: Geflogen wird bei Weitem nicht nur auf den festgelegten Routen. Am Flughafen Berlin-Tegel zum Beispiel fliegen viele Maschinen kurz nach dem Start in Richtung Süden. Es gibt jedoch keine Abflugroute in diese Richtung.
Aus der Antwort der Bundesregierung geht hervor, dass diese Abweichungen die Norm sind. Sogenannte Einzelfreigaben der DFS seien das „Standardinstrument des Flugverkehrslotsen“, so die Bundesregierung. Das bedeutet, dass ab einer gewissen Mindestflughöhe ein Fluglotse persönlich über Flugweg und Flughöhe einer Maschine entscheidet. Für den noch zu eröffnenden Berliner Flughafen BER liegt diese Mindesthöhe bei etwa 1.500 Metern.
Transparenz und Nachvollziehbarkeit
Große Frachtmaschinen werden laut Studien auch bei einer Flughöhe von über 5.000 Metern als störend empfunden. Die im Passagierverkehr viel geflogene Boeing 737 stört die Kommunikation in Räumen mit gekipptem Fenster immerhin noch bei einer Höhe von 2.800 Metern.
Die realen Flugwege der Maschinen betreffen oft Menschen, über deren Häuser keine Flugzeuge fliegen sollten, fürchtet Kühn. Auch im Falle von BER dürften Anwohner von Fluglärm betroffen sein, die noch nichts von ihrem Schicksal ahnen – und dementsprechend auch keinen Grund sahen, sich an der Diskussion über die Flugrouten zu beteiligen. Denn für Außenstehende ist nicht vorhersehbar, wo Flugzeuge bei Start und Landung tatsächlich entlangfliegen werden. Nach welchen Kriterien bei den Einzelfreigaben entschieden wird, ist unklar.
„Einen festen, abschließenden Katalog kann es nicht geben“, schreibt hingegen die Bundesregierung. Zu unterschiedlich seien die Anforderungen an den Einzelfall. Die Aufgabe der Flugsicherung sei es, „den Luftverkehr sicher, geordnet und flüssig abzuwickeln“.
Der Grüne Kühn hält einen solchen Katalog hingegen durchaus für möglich. „Das würde Transparenz und Nachvollziehbarkeit schaffen“, sagt er. „Dass die Bundesregierung das ablehnt, ist gegenüber den Fluglärmbetroffenen ein Affront.“
„Nee, nee; April, April“
Tatsächlich hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) 2011 über Lärmprobleme am Berliner Flughafen gesagt: „Den Menschen bestimmte Routen vorzustellen und dann plötzlich ’Nee, nee; April, April‘ sagen – so etwas ist mit der CDU nicht zu machen.“ Grünen-Politiker Kühn wirft ihr nun vor, genau dies zu tun. Dass die Bundesregierung die intransparente Praxis der Einzelfreigaben gutheißt, verspiele vorsätzlich das Vertrauen der Betroffenen, sagt der Verkehrsexperte.
In der Antwort der Regierung steht ebenfalls, dass das Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung die Entscheidungen der DFS „ausschließlich anlassbezogen“, also nicht regelmäßig kontrolliert. Welche Anlässe es gibt, bleibt unbeantwortet. Die DFS entscheidet also weitgehend allein, welche Flugzeuge über welche Häuser fliegen.
Kühn fürchtet, dass das dazu führt, dass Umwelt- und vor allem Lärmschutzaspekte bei diesen Entscheidungen immer weiter in den Hintergrund rücken. Allein ist er mit seiner Sorge offenbar nicht: Im Mai hat die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Flugroutenfestlegung in Deutschland eingeleitet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“