Flughafen im Wohngebiet: Das Blut vibriert
Fluglärm ist wie Tinnitus: Man muss ihn ignorieren, sonst wird er immer lauter. Deshalb ist der Protest der Tegel-Anwohner so kraftlos.
Denkpause – das Wort ist so schön. Aber wie geht sie? Selbst im Suff philosophieren die Leute, im Schlaf träumen sie. Aber es gibt eine Versuchsanordnung, die das Denken beendet: Man muss die Probanden nötigen, dafür in der Einflugschneise eines Flughafens zu wohnen.
Bevor sie dort die startenden, landenden Flugzeug hören, spüren sie sie. Die Flüssigkeit im Glas, das sie in der Hand halten, beginnt zu vibrieren. Dann schwillt der Ton schon an. Wird laut. Krachend. Wird noch lauter. Knallend. Ist am lautesten. Reißend. Schwillt ab. Erst brummend, dann dumpf. Auf dem Höhepunkt stocken Gespräche, mitten im Satz, und es stoppt das Denken.
In Berlin gibt es diese Versuchsanordnung in Echtzeit, denn gleich hinter dem Zaun am Flughafen Tegel beginnt das Wohngebiet. Hunderttausende Leute leben dort. Seit Jahren wird ihnen versprochen, dass es aufhört. Es hört nicht auf.
Aber, aber. Wozu über den Flughafen Tegel jammern, wo man über den neuen Flughafen BER, der in Berlin gebaut wird, so gut lachen kann. Da ist diese Postkarte mit Ulbricht. In der Sprechblase steht: „Niemand hat die Absicht, einen Flughafen zu bauen.“ Sie kursierte, nachdem klar war, dass der Eröffnungstermin im Juni 2012 nicht gehalten werden kann.
Manuela Schwesig ringt darum, Kind und Karriere zu vereinbaren. Nicht nur als Familienministerin. Warum sie trotz eines Kanzlerinnen-Rüffels immer noch an ihre Idee von der 32-Stunden-Woche glaubt, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 21./22. Juni 2014. Außerdem: Bekommen wir bald Vollbeschäftigung? Ein Vater blickt in die Zukunft seines Sohnes. Und im sonntaz-Streit: Nordsee oder Ostsee? Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Futur III
Sehr gelungen auch die Erfindung des Futur III, nachdem ein Jahr später nicht mehr nur die Eröffnungstermine abgesagt wurden, sondern auch die Termine für die Ankündigung eines Eröffnungstermins. Bisher hätten, sagen die Erfinder des Futur III, die vorhandenen Zeitformen Futur I und Futur II prima ausgereicht – um Ereignisse, die in der Zukunft passieren oder passiert sein werden, zu beschreiben.
Nunmehr aber bedürfe es einer neuen Zeitform, die sprachlich jenes Ereignis fasse, „das höchstwahrscheinlich nicht eintrifft, weil es ohnehin verschoben wird, nach offizieller Sprachregelung aber eigentlich zutreffen müsste“. „Nächstes Jahr um diese Zeit werde ich gerade meine Koffer beim Check-in aufgegeben hätten gehabt“, ist ein Beispiel. Nur in dieser Zeitform sind Gespräche über den neuen Berliner Flughafen BER möglich.
Nicht ganz klar ist, ob es nicht sogar eines Futur IV bedarf, denn inzwischen werden selbst die Termine, an denen Termine für Eröffnungstermine verkündet werden sollen, verschoben.
Neuerdings wird diskutiert, dass es einen Haufen Leute gibt, die von der Verschiebung profitieren: Unternehmensberater, Bauüberwacher, alle eigentlich. Der Korruptionsskandal um den Ex-Technikchef Jochen Großmann hat es an den Tag gebracht.
Niemand unterstellt Klaus Wowereit, dem Aufsichtsratsvorsitzenden der Flughafengesellschaft und Regierenden Bürgermeister Berlins, der Ende 2011 bereits die Eröffnungsparty plante, mit ungeheurem Bombast, dass er nichts lieber hätte, als dass der Flughafen BER „eröffnet hätte gehabt“ (Futur III). Aber als sich dies als Illusion herausstellte, entstand nicht der Eindruck, dass ihn das sehr belaste.
Kein Geld für Schulen
Belastet sind andere: jene, die mit dem Niedergang der sozialen Infrastruktur in Berlin zurechtkommen müssen. Geld für den unfertigen Flughafen ist da, Geld für Schulen, Bibliotheken, Schwimmbäder und Jugendarbeit immer weniger.
Und belastet sind eben auch jene, die ungeschützt den Lärm des Flughafens Tegel in Berlin abbekommen, der mitten im Wohngebiet liegt und die Hauptlast des Flugverkehrs trägt, solange es den BER nicht gibt. Wenn Wasser im Glas vibriert, vibriert auch das Blut. Eine Novellierung des Fluglärmgesetzes von 2007, das abgesenkte Lärmpegel rund um Flughäfen festschrieb, schloss in einem Zusatzpassus dezidiert jene Menschen aus, die in der Nähe eines Flughafens leben, der innerhalb der nächsten zehn Jahre schließt.
Gemeint war der Flughafen Tegel. Man nennt dieses Gesetz auch „Lex Tegel“. Das muss man sich vergegenwärtigen: Es gibt ein schützendes Gesetz – man hat ja eingesehen, dass Lärm krank macht –, aber man schließt etwa dreihunderttausend Leute davon aus. Mitgefühl Fehlanzeige. Niemanden juckt’s. Und rechtlich sei das okay, wie das Oberverwaltungsgericht Berlin gerade beschied. Fluglärm ist der Tinnitus Berlins. Ein Alarmsignal.
Die Anwohnenden von Tegel wehren sich nicht. Manche sind verzweifelt, und ihre Proteste sind es auch. Man kann sich nicht wehren, wenn man Fluglärm ausgesetzt ist. Wer sich wehrt, regt sich darüber auf. Wer sich darüber aufregt, kann es nicht aushalten.
Die Menschen dort sind geschlagen – Flugzeuge, die über einem starten und landen, sind wie Schläge. Dass Fluglärm, wie Untersuchungen belegen, Bluthochdruck, Konzentrationsschwächen, Schlaflosigkeit verursacht, krank und dumm macht, müssen die Leute, die in Einflugschneisen leben, hinnehmen, wenn sie sich einen Wegzug nicht leisten können – oder zu alt und zu krank dafür sind.
Fluglärm ist wie Tinnitus, körperlich, jeder spürt ihn für sich. Man muss ihn ignorieren, sonst wird er immer lauter. Deshalb auch ist der Protest der Betroffenen rund um den Flughafen Tegel so kraftlos.
Erlernte Hilflosigkeit
Dem Berliner Senat und Wowereit kommt diese Abgestumpftheit entgegen. Und die Schlechtmeldungen vom BER verstärken sie noch. Als würden den Menschen ständig Kirschen vor den Mund gehalten, und genau dann, wenn sie zugreifen wollen, werden sie weggezogen. Operante Konditionierung mit negativem Ausgang. Geschlagene ergeben sich dem Geschlagenwerden. Manche nennen das auch: erlernte Hilflosigkeit.
Ganz anders die Anwohnenden rund um den neuen Flughafen BER. Sie haben etwas zu verlieren, Ruhe nämlich. Und gleichzeitig haben sie noch die nötige Ruhe, um zu kämpfen, gegen den Krach, der ihnen droht. Sie sind stark, gut vernetzt, laut. Und sie haben viel erreicht: den besten Lärmschutz, den ein Flughafen in Deutschland je hatte. Während man den Leuten rund um den Flughafen Tegel einen angemessenen Schallschutz verweigert, obwohl der Flughafen dort vielleicht nie geschlossen wird, wird er rund um den neuen Flughafen BER eingebaut, obwohl es so scheint, als werde dieser nie fertig.
Der Protest schläft ein
Und jetzt eine Behauptung: Bis zu den Wahlen in Brandenburg in diesem September wird es auch keine Positivmeldungen vom Flughafen BER geben. Denn solange sich der Eindruck verfestigt, der BER sei ein Fall fürs Futur III, eine Luftnummer, schläft der Protest rund um den BER ein, obwohl eine Forderung der Flughafengegner unerfüllt ist: eine verbriefte Nachtruhe zwischen 22 und 6 Uhr.
Der eingeschlafene Protest kommt Brandenburgs Ministerpräsident Woidke, der wiedergewählt werden will, zupass. Seine Doppelzüngigkeit in Sachen Nachtflugverbot, jaja, er ist für Nachtflugverbot, aber neinnein, Berlin und der Bund seien eben dagegen, bringt ihn nicht in die Bredouille, wenn alle glauben, dass vom BER ohnehin nie ein Flieger abhebt.
Mehdorn liefert die Schlechtmeldungen vom BER in Folge: die Brandschutzanlage, die Kosten, das Personal. Erfolgsmeldungen dagegen werden vermieden. Dass 39 der 40 Gebäude dort seit Kurzem baurechtlich abgenommen sind, drang nicht als Freudenmeldung ins Ohr. Der Eindruck, dass das Ding nie fertig wird, scheint also nützlich, bis die Wahl in Brandenburg über die Bühne ist.
Danach aber müsste sich das Blatt wenden. Besser: müsste sich das Blatt gewendet würde haben. Denn in Berlin sind in zwei Jahren Wahlen. Und da kann Wowereit nur einen Blumentopf gewinnen, wenn er den Berlinern klar macht: Der Flughafen BER wird ein Erfolgsding. Kann sein, dass der Flughafen auch bis zur Berlinwahl noch immer nicht eröffnet ist, aber bis dahin wird alles getan, alle glauben zu machen, dass es geschieht, und dass der BER wunderbar wird. Denn: Wenn der Pfusch am Bau nicht bald aufhört, wird Klaus Wowereit die längste Zeit Regierender Bürgermeister Berlins wären gewesen. Im Ohr pfeift es schon.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland