Flüchtlingsstrom nach Italien: Die Gestrandeten von Lampedusa
Chaos in der Flüchtlingspolitik: Tunesien lehnt italienische Patrouillenboote vor seiner Küste ab, erklärt sich aber zur Kooperation mit Italien bereit.
ROM taz | Eine womöglich nur momentane Abschwächung des Zustroms tunesischer Flüchtlinge auf die italienische Insel Lampedusa, unbestätigte Meldungen über mehr als 20 Tote bei einem Schiffsunglück und parallel dazu hektische diplomatische Aktivitäten zwischen Rom, Tunis und Brüssel: dies war das Bild vom neuesten europäischen Flüchtlingsnotstand, das sich am Montag ergab.
Nachdem bis Sonntag früh binnen nur vier Tagen etwa 5.000 Tunesier auf Booten Lampedusa erreicht hatten, flaute der Zustrom deutlich ab. Am Montag meldete die Onlineausgabe der Tageszeitung La Repubblica unter Berufung auf eine arabische Website, ein tunesisches Patrouillenboot habe ein Flüchtlingsschiff gerammt; bei dem Untergang seien 29 Menschen ums Leben gekommen.
Unterdessen ordnete Italiens Regierung am Sonntagabend die Aufnahme der Flüchtlinge im voll funktionsfähigen Auffanglager der Insel an; damit hatten die meisten von ihnen endlich einen Schlafplatz. Doch diejenigen unter den Flüchtlingen, die nicht ins Lager wollten, wurden hierzu nicht gezwungen - wohl auch weil die italienische Regierung schlicht nicht über die nötige Anzahl von Beamten verfügt, um eine effektive Kontrolle zu gewährleisten. Das Innenministerium beschloss deshalb jetzt, 50 Carabinieri und 50 Polizisten auf die Insel zu schicken.
Die Lage: Gehört zu den Pelagischen Inseln und liegt im Mittelmeer etwa 110 Kilometer nördlich der tunesischen Küste. Lampedusa ist eine Felseninsel und etwa 20 Quadratkilometer groß. Das Klima ist subtropisch wie in Afrika, die ca. 4.500 Bewohner leben von Tauchtourismus und Fischerei.
Die Geschichte: Wie Sizilien war Lampedusa in früherer Zeit arabisch besiedelt. Aufgrund ihrer exponierten Lage diente die Insel lange als Seefahrer- und Schmugglerstützpunkt. Seit der italienischen Einigung 1860 gehört sie zu Italien.
Die Immigranten: Im vergangenen Jahrzehnt nahm der Flüchtlingsstrom aus Afrika stark zu. Die Verwaltung der kleinen Insel war angesichts des Massenandrangs völlig überfordert. Allein zwischen 2008 und 2009 wurden 20.000 Flüchtlinge registriert. 2009 brachen hunderte aus dem Auffanglager aus und protestierten damit gegen die dort herrschenden haftähnlichen Bedingungen. Die rigide Abschiebepolitik der Regierung Silvio Berlusconis - und ein entsprechendes Kooperationsabkommen mit der libyschen Regierung - stoppten den Flüchtlingsstrom fast ganz. Seit dem Umsturz in Tunesien nehmen viele Tunesier Kurs auf Lampedusa. Zurzeit befinden sich über 2.000 Illegale dort. (taz)
Das Ansinnen der italienischen Regierung, eigene Beamte und Patrouillenboote direkt nach Tunesien zu schicken, wurde von der dortigen Regierung umgehend als "unakzeptabel" abgelehnt. Die Website von La Repubblica zitierte einen Sprecher des tunesischen Außenministeriums, der den italienischen Vorschlag als "vorhersehbar" klassifizierte, da Italiens Innenminister Roberto Maroni von der Lega Nord bekanntermaßen zur "extremen, rassistischen Rechten" gehöre. Zugleich aber erklärte die Regierung in Tunis, sie sei zur Kooperation mit Rom bereit. Am Montagabend wurde Italiens Außenminister Franco Frattini zu Gesprächen mit der tunesischen Regierung erwartet. Bis zum Sturz Ben Alis erfolgte die bilaterale Zusammenarbeit bei der Flüchtlingsabwehr sehr effizient. Nachdem im Jahr 1999 ein Abkommen zwischen beiden Staaten geschlossen worden war, das auch die Rücknahme der Flüchtlinge durch Tunesien beinhaltete, trafen von dort über mehr als zehn Jahre hinweg kaum noch Flüchtlinge ein.
Ebenfalls am Montag machte sich die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton auf den Weg nach Tunis, wo sie ausloten wollte, wie die EU-Hilfe beim demokratischen Wandel des Landes aussehen kann. Vorerst aber stand die Polemik zwischen Italien und der EU im Vordergrund. Minister Maroni erklärte, Brüssel habe Italien mit der Krise "alleingelassen" und "langsam und bürokratisch" auf das italienische Ersuchen um Hilfe reagiert. EU-Innenkommissarin Cecilia Malstrom wies den Vorwurf zurück; es sei vielmehr Italien gewesen, das Hilfsangebote in den letzten Tagen zurückgewiesen habe.
Doch wenigstens aus Berlin kam verbaler Zuspruch für die italienische Regierung. Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes erklärte nach Westerwelles Besuch in Tunesien am Wochenende, die Flüchtlinge seien ein gemeinsames europäisches Problem. Die Lebensperspektiven der Jugendlichen müssten in Tunesien verbessert werden, wenn man das Problem an der Wurzel fassen wolle. Westerwelle rief die jungen Menschen auf, in ihrer Heimat zu bleiben - versprach aber zugleich, die Bundesregierung werde sich in Tunesien mit unternehmerischen Programmen erheblich engagieren. Auch der CDU-Außenpolitiker Philipp Mißfelder warnte davor, in Deutschland Flüchtlinge aus Afrika aufzunehmen. Die Flüchtlingswelle der letzten Tage sei nur der Anfang eines größeren Flüchtlingsstroms gewesen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen