Flüchtlingspolitik in Australien: Einwanderer zweiter Klasse
Australien gilt als Einwanderungsland. Doch wer mit dem Boot den fünften Kontinent ansteuert, landet im Flüchtlingslager – auf unbestimmte Zeit.
SYDNEY taz | „Ich bin seit drei Jahren hier“, sagt Ranil Ganhewa* aus Sri Lanka mit bedrückter Stimme. Der Mittdreißiger steht am Rand des Sportplatzes im Internierungslager Villawood im gleichnamigen Vorort von Sydney. Hier sind in einem Industriegebiet hinter hohen mehrfachen Draht- und Gitterzäunen 360 Asylbewerber und Abschiebehäftlinge eingesperrt, manche seit Jahren.
„Meine Freunde vom Flüchtlingsschiff sind längst frei. Warum ich eingesperrt bleibe, weiß ich nicht“, sagt Ganhewa. Der Pressebetreuer des Migrationsministeriums vermutet, Australiens Geheimdienst stufe Ganhewa als Sicherheitsrisiko ein. Die Gründe wird er wohl nie erfahren.
Villawood ist eines von 22 Internierungslagern, die Australien auf seinem Territorium betreibt. Im Oktober letzten Jahres waren landesweit mehr als 5.400 Asylbewerber zwangsinterniert. Inzwischen dürften es einige tausend mehr sein. Hinzu kommt ein weiteres Lager im winzigen Pazifikstaat Nauru und eines auf der Insel Manus in Papua-Neuguinea.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte Australien mit beschleunigtem Bevölkerungswachstum vor allem seine Verteidigungsfähigkeit stärken. Seit 1945 kamen so 7,2 Millionen Einwanderer auf den Kontinent mit heute 22,5 Millionen Einwohnern, bis Ende der 60er Jahre fast nur Europäer („White Australia Policy“). Seit den 70ern gibt es ein Bekenntnis zum Multikulturalismus, 1976 begann die Aufnahme von Flüchtlingen aus Vietnam und 1977 ein Programm zur Aufnahme von der UNO anerkannter Flüchtlinge.
Zurzeit sind 190.000 Zuwanderer pro Jahr vorgesehen, davon 130.000 Fachkräfte und 60.000 Personen im Rahmen von Familienzusammenführungen. Dazu kommen 20.000 Flüchtlinge (UN-anerkannte Flüchtlinge und Asylbewerber).
Zudem gibt es 344.000 ausländische Studierende sowie 160.000 ausländische Arbeitskräfte mit temporären Visa. Aus diesen beiden Gruppen werden bevorzugt Fachkräfte nach einem Punktesystem oder direkt durch Arbeitgeber rekrutiert. Ziel der Migrationspolitik ist heute, die Wirtschaft zu stärken. Demnach braucht Australien rund 200.000 Einwanderer pro Jahr. (han)
Sie wurden nach einer Kehrtwende der australischen Asylpolitik im September und November 2012 wiedereröffnet und haben zusammen weitere 2.100 Plätze. Im Unterschied zu den modernen zweigeschossigen Gebäuden im renovierten Lager Villawood müssen die Flüchtlinge in den pazifischen Lagern in Zelten leben.
Einwandern ja, aber nicht per Boot
Die ersten weißen Einwanderer kamen vor 225 Jahren Jahren mit Schiffen aus Europa auf den fünften Kontinent. Es waren Sträflinge, und ihre erste Siedlung hieß Sydney. Das Vergehen der Internierten von heute besteht darin, es ihnen gleichgetan zu haben. Sie gelangten in der Regel von Indonesien aus per Boot zur 350 Kilometer südlich gelegenen australischen Weihnachtsinsel.
Wären sie mit dem Flugzeug direkt auf das australische Festland geflogen, wofür sie aber ein Visum gebraucht hätten, wären sie nicht interniert. Dabei werden von den Flüchtlingen, die die riskante Fahrt auf überfüllten alten Fischkuttern wagen und meist aus Afghanistan, Sri Lanka, Iran und Irak kommen, letztlich mehr als asylberechtigt anerkannt als von denen, die direkt einfliegen.
Die sogenannten Boat People sind im Einwanderungsland Australien, wo knapp die Hälfte der Gesamtbevölkerung im Ausland geboren wurde oder mindestens ein Elternteil ausländischer Herkunft hat, diejenigen auf der untersten Stufe aller Migranten. Ein harter Umgang mit den Bootsflüchtlingen, die sich meist mithilfe von Menschenschmugglern selbst auf den Weg machen, bringt Wählerstimmen. Dem konservativen Premier John Howard gelang so 2001 eine schon verloren geglaubte Wiederwahl.
Australier rühmen sich ihres Sinns für Fairness. Die Regierung bezeichnet die Bootsflüchtlinge als „Vordrängler“, weil sie im Rahmen der von ihr selbst festgelegten Flüchtlingsquote für jeden als Asylbewerber anerkannten Bootsflüchtling einen Flüchtling weniger aufnimmt, der aus einem Lager irgendwo auf der Welt kommt und dort vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR anerkannt wurde.
Das Vordrängler-Argument
Doch Flüchtlingsorganisationen weisen darauf hin, dass die von der Regierung gemachte Verknüpfung künstlich und vielmehr politisch gewollt ist. In Wirklichkeit würden nur ganz wenige Menschen aus Lagern aus anderen Ländern überhaupt Aufnahme finden. Doch das Vordrängler-Argument nutzt inzwischen auch die heutige Regierung.
Im Lager Villawood bei Sydney haben die Flüchtlinge Sport- und Freizeitmöglichkeiten, Klimaanlagen und 16 Stunden täglich kostenlosen Internetzugang. Für die Teilnahme an Kursen wie etwa Englisch gibt es Punkte, die sie gegen Dinge des persönlichen Bedarfs tauschen können. Manche Australier dürften die Flüchtlinge zumindest um ihren Standard in Villawood beneiden. Wegen der Nähe zu Sydney ist es zum Vorzeigelager geworden, auch wenn der neue und noch unüberwindbarere Zaun mit seinem Rohr auf der Oberkante an die Berliner Mauer erinnert.
Der Pressebetreuer des Migrationsministeriums (Motto: „Menschen sind unser Geschäft“) nennt die Internierten, oft traumatisierte Flüchtlinge, manchmal auch Kinder, „Kunden“ und sagt zur Abschreckungspolitik durch Lager: „Wir bieten hier die Dienstleistung der Internierung.“ Auf mehrsprachigen Schildern wirbt ein Flüchtlingsombudsmann: „In Australien gibt es ein Beschwerderecht.“ Das wird Ranil Ganhewa aus Sri Lanka gegen das Votum des Geheimdienstes kaum helfen. Eher kann das Ministerium hoffen, dass er eines Tages von der Internierung so zermürbt ist, dass er seiner „freiwilligen“ Rückführung nach Sri Lanka zustimmt.
Auf noch mehr Abschreckung zielen die wiedereröffneten Lager außerhalb Australiens. Von den 1.637 Flüchtlingen, die Australien von 2002 bis 2008 im Rahmen der sogenannten pazifischen Lösung nach Nauru und Manus schickte, kehrten denn auch 483 „freiwillig“ in ihre Herkunftsländer zurück. Australien nahm 705 auf, Neuseeland 401. Die gewünschte Wirkung der pazifischen Lager war, dass damals die Zahl der in Australien landenden Flüchtlingsboote stark zurückging.
Inhumane Flüchtlingsverschickung
2008 beendete die neue Labor-Regierung von Kevin Rudd die von ihm selbst als inhuman bezeichnete Flüchtlingsverschickung in den Südpazifik. Auch gelang es, die durchschnittliche Verweildauer in den Lagern in Australien zu reduzieren. Doch stieg die Zahl der Flüchtlinge wieder an, die sich auf die gefährliche Fahrt zur Weihnachtsinsel machten. Eine Expertenkommission schätzt, dass dabei von Ende 2001 bis Juli 2012 964 Asylbewerber ertranken, davon 604 seit Oktober 2009.
Die Verhinderung gefährlicher Überfahrten wurde so zum Hauptargument der Labor-Regierung unter Rudds Nachfolgerin Julia Gillard, als sie im August 2012 zur Politik der pazifischen Lager zurückkehrte. Doch geht es wirklich darum, Asylbewerber vor dem Ertrinken zu bewahren? Oder ist das Ziel nicht vielmehr, dass die Flüchtlinge gar nicht erst Australien erreichen?
„Australier haben große Furcht vor einer Invasion aus dem Norden“, sagt der Migrationsforscher Stephen Castles von der Universität Sydney. „Schließlich haben wir ja selbst einmal das Land den Einheimischen weggenommen und fürchten nun, dass uns dasselbe passiert.“ Er verweist auf den Widerspruch, dass sich die Zahl der von Australien aufgenommenen Migranten (ohne Flüchtlinge) in den letzten 15 Jahren von 82.500 (1995/96) auf 168.685 (2010/11) pro Jahr mehr als verdoppelt hat. „Die Boat People dienen als Sündenböcke“, meint Castles.
Der Journalist und Buchautor David Marr sagt: „Mit der ’pazifischen Lösung‘ erweckte Premier Howard den Eindruck der Kontrolle. Das ermöglichte ihm, die Zahl der Einwanderer stark zu erhöhen. So konnte er die rechte Partei One Nation kleinhalten und zugleich die von der Wirtschaft benötigten Arbeitskräfte ins Land holen.“ Laut Marr schreckt die Internierung keine Flüchtlinge ab, sondern dient der Beruhigung der Bevölkerung.
Boat People sind nicht willkommen
Castles verweist darauf, dass in den letzten 15 Jahren parallel zur gestiegenen Aufnahme von Einwanderern die Zahl der aufgenommenen Flüchtlinge von 16.252 auf 13.799 zurückging. Eine Expertenkommission der Regierung empfahl deshalb auch, die Zahl der aufzunehmenden Flüchtlinge künftig auf 20.000 Flüchtlingen zu erhöhen. „Es ist paradox: Flüchtlinge sind willkommen, aber Boat People werden kriminalisiert“, sagt Castles.
Studien zufolge wirken sich in Australien alle Migrantengruppen positiv auf die Wirtschaft und Gesellschaft aus. Fiskalisch profitiert der Staat im Schnitt ab dem 13. Jahr von einem Flüchtling, bei Fachkräften schon früher. „In der Vergangenheit lag der Schwerpunkt unserer Einwanderungspolitik auf der Familienzusammenführung“, sagt Migrationsminister Chris Bowen. „Heute liegt er auf qualifizierten Arbeitskräften, weil wir sie brauchen. Sie nehmen keine Jobs weg, sondern schaffen welche. Um Wirtschaftsprojekte überhaupt durchzuführen oder im Kosten- und Zeitplan zu halten, brauchen wir Arbeitskräfte.“
Bisher hatte die Rückkehr zur „pazifischen Lösung“ den unerwarteten Effekt, dass die Zahl der in australischen Gewässern eintreffenden Bootsflüchtlinge nicht zurückging, sondern sogar anstieg. So kamen von August bis November vergangenen Jahres 7.929 weitere Asylbewerber übers Meer, also viel mehr, als die Lager in Nauru und Manus Plätze bereitstehen.
Für eine veränderte Politik hat das nicht gesorgt. Während die Regierung von Torschlusspanik unter den Flüchtlingen ausgeht, fordert die konservative Senatorin Michaelia Cash, migrationspolitische Expertin der Opposition: „Wir müssen die Boote wieder zurück aufs Meer schicken!“
*Name geändert
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