Flüchtlingspolitik Europa: "Das ist Missbrauch des Asylsystems"
Migranten werden zu Flüchtlingen gemacht, weil Europa kein Einwanderungsprogramm hat, sagt der Migrationsexperte Bernd Kasparek.
taz: Herr Kasparek, eine Konferenz der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin zur Flüchtlingskrise zwischen Europa und Nordafrika endete am Donnerstag mit der Forderung nach Abschaffung des "Dubliner Abkommens". Das regelt, dass jeder EU-Staat, der einen Flüchtling einreisen lässt, auch dessen Asylverfahren abwickelt. Das klingt doch fair, oder?
Bernd Kasparek: Ist es aber nicht. Staaten wie Griechenland müssen so fast ganz alleine mit den ankommenden Flüchtlingen fertig werden. Dabei will fast keiner von denen in Griechenland bleiben. Trotzdem müssen die Flüchtlinge dort unter katastrophalen Bedingungen bleiben. Sie werden in Internierungslager gesperrt, es gibt kein Asylsystem.
Deswegen hat Deutschland im Januar Abschiebungen nach Griechenland gestoppt.
30, promoviert am Institut für Europäische Ethnologie in München und ist aktiv beim Netzwerk kritischer Migrations- und Grenzregimeforschung (kritnet).
Nicht deswegen, sondern weil sonst das Bundesverfassungsgericht die Abschiebungen dorthin verboten hätte. Deutschland hat das Dublin-System maßgeblich vorangetrieben. Nun hat Innenminister de Maizière Griechenland zum Ausnahmefall erklärt, um das System zu retten.
Wird er damit Erfolg haben?
In ganz Europa haben Gerichte Abschiebungen nach Griechenland verboten. Die großen EU-Staaten machen deshalb massiv Druck auf Athen. Kürzlich hat Griechenland ein neues Asylgesetz verabschiedet. Aber außer grauenhaften Lagern fehlt dort jede Infrastruktur. In einem Jahr wird das nicht anders sein.
Hätte es denn einen Unterschied gemacht, wenn auch die deutschen Verfassungsrichter ein Urteil gesprochen hätten?
Natürlich. Das hätte am Asylkompromiss von 1993 gerührt. Damals hat Deutschland mit der Drittstaatenregelung einfach die Verantwortung für Asyl auf seine Nachbarstaaten abgewälzt. Ein Urteil hätte da einen Rollback möglich gemacht. Denn mit Dublin II hat die EU das Flüchtlingsproblem an die Staaten an seiner Peripherie abgegeben.
Warum machen die das denn mit?
Wollen sie ja nicht. Griechenland, Malta, Italien und Zypern haben die "Quatro-Gruppe" gegründet und versuchen, die Richtlinie zu kippen. Sie wollen ein "Dublin III"-Abkommen. Aber die großen Staaten Zentraleuropas blockieren.
Wie sähe "Dublin III" aus?
Es gäbe eine Verteilung der Flüchtlinge unter allen EU-Staaten gemäß ihrer Einwohnerzahl. Etwa so, wie die deutschen Bundesländer es auch handhaben. Das würde einiges vorantreiben. Aber es berücksichtigt die Wünsche der Flüchtlinge nicht.
Was wünschen die sich?
Viele wollen dahin, wo Verwandte leben oder wo sie die Sprache verstehen. Deswegen muss es endlich wieder möglich werden, den Asylantrag im Land seiner Wahl zu stellen. Noch viel wichtiger aber ist, dass es ein europäisches Einwanderungsprogramm gibt. Was wir jetzt erleben, ist ein Missbrauch des Asylsystems durch die Regierungen. Der Zugang zu europäischem Territorium ist nur noch per Asylantrag möglich. Migranten werden so zu Flüchtlingen umtätowiert. Da ist es kein Wunder, dass die alle einen Asylantrag stellen - selbst wenn sie, wie jetzt die Tunesier auf Lampedusa, sagen: Wir sind hier, weil wir arbeiten wollen.
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