Flüchtlinge verklagen Italien: Die Rufer in der Wüste
In einem historischen Prozess verklagen 24 Flüchtlinge die italienische Regierung. Zu den Verhandlungen dürfen sie nicht kommen.
ROM taz | Fast hatten sie es geschafft: Schon fünf Tage lang waren die 227 Flüchtlinge auf dem Mittelmeer unterwegs, bald würden sie auf der italienischen Insel Lampedusa an Land gehen. Doch an jenem 6. Mai 2009 brachte die italienische Küstenwache die Schutzsuchenden nicht ans rettende Ufer, sondern lieferte sie als erste Migranten an das Gaddafi-Regime in Tripolis aus. Insgesamt 1.409 Migranten erlitten bis Ende 2010 dieses Schicksal - im Nu war das Vorgehen Routine geworden. Routine - aber kein Recht.
Davon sind zumindest 24 Flüchtlinge aus der Gruppe der 227 überzeugt, die jetzt Gerechtigkeit fordern: Gemeinsam mit dem italienischen Menschenrechtsanwalt Anton Giulio Lama haben sie im Dezember 2009 vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg Anklage erhoben. Für kommenden Mittwoch ist die abschließende Verhandlung geplant. Auf dem Spiel steht nichts Geringeres als die Zukunft der europäischen Grenzpolitik: Denn eine Verurteilung könnte den Einreisestopp ein für alle Mal beenden.
In Lamas Anwaltsbüro stapeln sich Akten voller schwerer Vorwürfe: Die Kläger hatten berichtet, wie sie in einem Gefangenenlager in der libyschen Wüste eingesperrt und gefoltert wurden - einem Lager, das die EU mitfinanziert hat, als Basis für eine künftige Zusammenarbeit mit Gaddafi.
Lama glaubt an Gerechtigkeit. Und diesen Glauben braucht er, denn er vertritt die 24 ehrenamtlich. Alle paar Wochen nimmt einer der Kläger Kontakt zu ihm auf; die E-Mails und Anrufe lässt er sich aus dem Tigrinischen und dem Somali ins Italienische übersetzen und dolmetschen. Viel Aufwand, doch für den Prozess sind die Details ihrer Aussagen entscheidend. Schon 2005 hatte Lama eine erste Anklage gegen die italienische Regierung erhoben, weil sie elf liberianische Flüchtlinge ausgewiesen hatte. Damals hatten die Kläger den Kontakt zu Lama nicht halten können; sie verloren den Prozess. Doch dieses Mal ist alles anders - und Lama optimistisch. Dass Straßburg den Prozess vor der Großen Kammer verhandle, sei ein gutes Zeichen, sagt er.
Befehl von ganz oben
Bei der Verhandlung am Mittwoch wird sich Anton Giulio Lama auf die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und auf die Grundfreiheiten berufen: Demnach hätte Italien die Schutzsuchenden nicht in ein Land bringen dürfen, in dem Folter droht - ohnehin nicht als kollektive Deportation. Sie seien weder nach ihren Namen gefragt worden noch durften sie politisches Asyl beantragen oder Berufung bei einem italienischen Gericht einlegen, sagt Lama.
Diesen Text und viele andere spannende Geschichten lesen Sie in der sonntaz vom 18./19. Juni 2011 – ab Sonnabend zusammen mit der taz an ihrem Kiosk oder am eKiosk auf taz.de. Die sonntaz kommt auch zu Ihnen nach Hause: per Wochenendabo. Und für Fans und Freunde: facebook.com/sonntaz
Doch wer sind die Angeklagten in diesem Prozess? Fest steht: Der Deportationsbefehl kam von ganz oben - vom italienischen Innenminister Roberto Maroni, der die Operation einen Tag später als "historischen Wendepunkt" bezeichnete. Und hinzufügte: "Libyen ist Teil der UN: Es gibt dort also UN-Beauftragte, die entscheiden können, ob diese Personen berechtigt sind, politisches Asyl zu beantragen." Eine glatte Lüge. Denn zur gleichen Zeit forderten die Vereinten Nationen Italien auf, die Abschiebungen nach Tripolis zu stoppen und das Recht auf politisches Asyl zu respektieren.
Dass die Flüchtlinge heute von ihrem Recht auf Beschwerde Gebrauch machen können, ist ein seltener Glücksfall: Mitarbeitern von Menschenrechtsorganisationen war es gelungen, die Flüchtlinge im Gefangenenlager zu besuchen und ihre Zeugenaussagen aufzunehmen. Nur mithilfe von Korruption hatten sie sich überhaupt aus dem libysch-europäischen Gefängnis befreien können - eine Aussicht auf ein Gerichtsverfahren hatte es nicht gegeben. Die 24 Kläger leben heute verstreut in verschiedenen Ländern, die meisten in Flüchtlingslagern. Wer konnte, war vor dem Libyenkrieg geflohen. Ein Kläger ist während des Prozesses ertrunken, als er die Überfahrt erneut riskierte.
Keine Einreisegenehmigung
Indessen ist Europas alter Freund Gaddafi zum Feind Nummer eins geworden. Aktuell duldet Italien daher die Einreise; seit Anfang des Jahres kamen 20.000 Menschen aus Tripolis auf Lampedusa an. Die Übergangsregierung der Aufständischen in Bengasi hat sich allerdings schon bereit erklärt, auch in Zukunft deportierte Flüchtlinge entgegenzunehmen. Denn Rom und Brüssel wollen die Auslieferungen wieder aufnehmen, sobald der Krieg vorbei ist - nur das Urteil des Straßburger Gerichts kann dies noch verhindern.
Allen 24 Klägern hätte in Europa politisches Asyl zugestanden: Die elf Eritreer hatten in einer Militärdiktatur den Kriegsdienst verweigert; die 13 Somalier waren aus einem Land geflohen, in dem seit zwanzig Jahren Bürgerkrieg herrscht. Wenn am Mittwoch die Stunde der Entscheidung schlägt, wird jedoch keiner der Kläger anwesend sein - eine Einreisegenehmigung haben sie nicht bekommen.
Übersetzung: Riccardo Valsecchi
Gabriele del Grande bloggt auf www.fortresseurope.blogspot.com über Migration.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Donald Trump wählt seine Mannschaft
Das Kabinett des Grauens
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels