Flüchtlinge in Calais: Hoffen auf den Mythos England
Nach der Räumung des größten Flüchtlingscamps "Jungle" hält in Calais der Zustrom von Migranten an - wie auch die Repression der Behörden.
Zurückgeblieben ist ein Standbild. Eine bizarre Brache von der Ausdehnung mehrerer Fußballfelder. Was nach dem Fällen der Bäume noch übrig war, wurde planiert. Die Spuren der Bulldozer haben sich tief in den Boden gegraben, über Schlafsäcke und Decken, die im feuchten Sand vor sich hin schimmeln. Zerknüllte Hosen, Pullover und einzelne Schuhe liegen auf dem matschigen Grund. Auch Matratzenspiralen finden sich zwischen Brettern und Plastikplanen, und jede Menge Abfall. Ein Busdepot, ein Elektrizitätswerk und ein paar Lagerhallen säumen das Gelände in der Zone Industrielle des Dunes unweit des Hafens. Seit Monaten bewegt sich hier nichts mehr.
Auf einmal kommt Leben in die eingefrorene Szene. Unvermittelt taucht eine Gestalt aus dem Gebüschstreifen am Rand auf. Sie trägt Jogginghose, einen Parka und eine dunkelblaue Mütze. Der Afghane wohnte früher hier, im Jungle, dem größten der elenden Flüchtlingscamps unter freiem Himmel, für die Calais berühmt wurde. Sein Gesicht ist zerfurcht, über 40 Jahre ist er alt, doppelt so alt wie die meisten hier, und anders als sie spricht er nur brüchiges Englisch. "Finished", sagt er, und weist auf die Ödnis um sich. Mit einer scharfen Handbewegung deutet er den Bulldozereinsatz an und zuckt die Schultern. Dann schlurft er weiter, überquert die Straße und verschwindet dahinter in einem Waldstück. Dort wohnt er jetzt.
Sangatte: 1999 eröffnete das Rote Kreuz in Sangatte bei Calais ein Lager, um Flüchtlinge aus dem Kosovo auffangen zu können. Neue Migrantenströme aus Irak und Afghanistan sorgten schon bald für Überfüllung. Zehntausende versuchte illegale Einreisen belasteten das Verhältnis zwischen Paris und London. 2002 wurde das Lager geschlossen.
Verteilung: Danach verteilte sich die Transitmigration entlang der Kanalküste, Calais aber blieb das Zentrum. Flüchtlinge errichteten Jungle genannte Elendscamps und besetzten leerstehende Gebäude. Seit 2004 verstärken Paris und London die gemeinsamen Kontrollen.
Jungle: Im Juli 2009 beschlossen beide Länder eine Intensivierung. Im September wurde der größte Jungle zerstört. Hunderte Migranten sind in Paris untergetaucht. Der stetige Zustrom hält die Zahl in Calais bei rund 300.
Es ist eine Szene mit Symbolkraft. Die groß angelegte Räumungsaktion des Jungle, in dem im Sommer noch um die tausend meist afghanische Migranten unter erbärmlichen Bedingungen lebten, holte im September die Weltpresse in die Hafenstadt am Ärmelkanal. Sie wurde Zeuge einer öffentlichen Inszenierung: Die französische Regierung wollte klarstellen, dass es ihr von nun an ernst sei mit der Bekämpfung der Transitmigration nach Großbritannien. Knapp 300 Menschen wurden nach offiziellen Angaben festgenommen, Einwanderungsminister Éric Besson klopfte sich für den erfolgreichen Schlag gegen Schlepperbanden vor laufenden Kameras selber auf die Schulter und kündigte an, Calais werde bis zum Jahresende "wasserdicht gegen illegale Einwanderung".
Die Wirklichkeit sieht anders aus. Zwar sind mehrere hundert Transitmigranten in Paris untergetaucht, andere haben sich über die Küste verteilt, nach Dunkerque, Boulogne und bis herunter nach Cherbourg, um von dort versteckt auf einem Lkw mit der Fähre oder dem Eurostarzug die andere Seite des Kanals zu erreichen. Doch bereits am Abend nach der Zerstörung des Jungle trafen neue Flüchtlinge in Calais ein. Zu Beginn des Winters sind es rund 300. Ihre Hoffnung auf Asyl oder wenigstens Schwarzarbeit und wenig Ausweiskontrollen mag der dortigen Realität immer weniger entsprechen. Doch der Mythos England überdauert Planierraupen und Kettensägen, so wie er seit Jahren immun ist gegen die Aufrüstung der Straße von Dover zu einer der am schwersten zu überwindenden Grenzen der Welt. Nach der Räumung ist vor der Räumung, das ist das Gesetz von Calais, und so geht der Afghane mit dem faltigen Gesicht einfach hinüber, in den neuen Jungle.
Es ist nicht die einzige provisorische Siedlung. Auch hinter dem verlassenen Hovercraft- Terminal bieten die Dünen weiterhin Unterschlupf für Gestrandete. Hazara-Jungle heißt der Streifen im lokalen Idiom, begrenzt von einem seltsam idyllischen Strand und der Straße, die den von grellweißen Zäunen umgebenen Hafen mit der Stadt verbindet. Sechs junge Hasaren, Angehörige einer farsisprechenden Minderheit in Zentralafghanistan, haben sich seit zwei Wochen dort niedergelassen. Seither findet in den Dünen ein makabres Katz- und Mausspiel statt: Beinahe jede Nacht, sagt der 28-jährige Ahmadi, bekommen sie Besuch von fünf oder sechs Polizeiwagen. Die Beamten decken das Areal in den Dünen mit Tränengas ein, zerstören die Zelte, nehmen die Schlafsäcke mit und stecken die unsanft Geweckten für den Rest der Nacht in eine Zelle. Am nächsten Tag werden sie freigelassen, kehren zurück in ihren Jungle und beginnen erneut, aus Planen, Paletten und Absperrgittern einen Unterschlupf zu zimmern. Nur hundert Meter vom neu errichteten Lager entfernt finden sich die Überbleibsel des vorigen. Reste eines Stuhls, verkohltes Holz, zertretenes Plastik. Seit Jahren können die Migranten von Calais davon ein Lied singen. Die, die erst im Herbst gekommen sind, kennen kein anderes. Die Frequenz der Einsätze hat massiv zugenommen.
Der Ort, an dem all diese Geschichten erzählt werden, liegt im heruntergekommenen Hafenviertel in Sichtweite der Fährterminals. Auf einem geräumigen Hof, den die Stadt ihnen zur Verfügung stellt, verteilen Hilfsorganisationen dreimal am Tag Mahlzeiten. Wie überall in Calais kreuzen Polizeistreifen hinter dem Zaun. Während der Essensausgabe belassen sie es bei Blicken, so ist es mit der Bürgermeisterin abgesprochen.
Zeit zum Durchatmen für Hamid und Ajmal. Die beiden 16-Jährigen wohnten im zerstörten Jungle. Seither schlafen sie unter Brücken, wenn sie nicht, wie gestern, von der Polizei mit Tritten geweckt und ihre Decken mit Wasser begossen werden. An eine Nacht auf der Wache eine Stunde von Calais entfernt haben sie sich inzwischen gewöhnt. Brauchen sie für den Rückweg zu lange, verpassen sie eine Mahlzeit. Kein Wunder, dass sie auf kältere Temperaturen warten: Ab zwei Grad unter null nämlich stellt eine städtische Schule ihre Turnhalle zur Verfügung.
Viele Minderjährige
Es sind unter anderem die vielen Minderjährigen, die Maureen McBrien nach Calais brachte. Bereits seit dem Sommer unterhält das UNHCR, das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen, eine Niederlassung in der Stadt. Seit dem Herbst wird sie von der Amerikanerin geleitet. 14 Jahre lang zog McBrien durch Flüchtlingscamps in Kriegsgebieten wie Kongo, Ruanda und Kosovo. Die Zustände in Calais hält sie für "schlimmer, als ich sie irgendwo anders gesehen habe".
Weil die Transitmigranten nach England wollen, stellt niemand in Frankreich einen Antrag auf Asyl. "Daher haben sie kein Recht auf staatliche Hilfe. Die einzige Unterstützung kommt hier aus der Zivilgesellschaft." Maureen Mc Brien und ihr Assistent besuchen daher die Camps der Umgebung, um Informationen zum Asylverfahren in Frankreich zu geben. Trotzdem geht ein Lachen über ihr Gesicht, als sie bei der Mittagsausgabe die Nachricht der letzten Nacht vernimmt: Drei Jugendliche haben es hinüber nach England geschafft. Der älteste ist 14, der jüngste 11.
Denen, die in dieser Nacht in einer verlassenen Schreinereihalle am Rand des Zentrums um das Feuer sitzen, steht dieser Schritt noch bevor. African Squat wird das riesige Gebäude genannt, denn die rund 30 Bewohner kommen aus dem Sudan, Eritrea und Somalia. Das Tor lässt sich nicht mehr schließen, es gibt keine Elektrizität, und brauchbares Feuerholz wird ein knappes Gut im feuchten Ärmelkanal-Winter. Zwei Tage zuvor saß Steven noch hier, ein eloquenter 23-Jähriger, der wie die meisten Sudanesen aus Darfur kommt. In knapp drei Wochen hatte er eine Handvoll Versuche unternommen, auf eine Fähre zu gelangen. Vergeblich. Während er seine Socken am Feuer trocknete, erzählte er von den Fluchtplänen, die jeder für sich alleine schmiede. "Jederzeit kann jemand einfach verschwinden. Vielleicht wollte er nur kurz raus in die Stadt, und wir sehen ihn nie wieder." Kurz darauf wurde Steven selbst zum letzten Mal gesehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland