Flüchtlinge auf Lesbos: Insel der Freiwilligen
In den Flüchtlingslagern auf Lesbos herrschen Chaos und Not. Helfer tun, was sie können. Die EU schaut zu. Und immer wieder kommen neue Boote an.
Salin, die Jeans, eine schwarze Jacke und ein schwarzes Kopftuch trägt, lebt seit einer Woche im Camp „Village all together“ – auch Pikpa genannt – auf der Insel Lesbos. Mit ihrem Mann und ihren drei Kindern hatte sie sich von Afghanistan aus auf den Weg über das Meer gemacht. Es habe für sie keine Wahl gegeben: „Taliban“, sagt sie, „gefährlich“.
Ihr Blick ist noch immer voller Angst. Sie will nach Deutschland, wartet jetzt auf ihre Papiere, die ihr hier ausgestellt werden. Wie genau sie weiterreisen werden, weiß sie nicht. Aber in Deutschland hat ihr Sohn eine Zukunft. Dann ist nur noch Traurigkeit in ihren dunklen Augen. Sie hat nur noch dieses eine Kind. Die 10-jährigen Zwillinge – ein Junge und ein Mädchen – sind ertrunken. Das Meer war zu stürmisch, das Boot zu unsicher.
Salin schaut zu Boden. Wieder knarren die Eisenstangen, die Frau gibt dem Karussell neuen Schwung. Assid lacht.
Alles wird täglich neu entschieden
Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR sind in diesem Jahr etwa 650.000 Flüchtlinge aus der Türkei über das Meer nach Griechenland gekommen. Allein im Oktober flüchteten rund 218.400 Menschen – fast so viele wie im gesamten Vorjahr.
Mehr als 60 Prozent von ihnen stammten aus Syrien. Hunderte der Flüchtlinge sind bereits ums Leben gekommen. Die Seeroute nach Lesbos ist mit Anbruch des Herbstwetters sehr gefährlich geworden.
Gegenüber dem Spielplatz steht Effi Lazoudi vor dem hellgelben Hauptgebäude mit bunten Malereien, auf dem der Satz „Herzlich Willkommen“ auf Griechisch, Englisch, Arabisch und in Farsi geschrieben steht. Die 47-jährige ist eine der OrganisatorInnen hier. Mit zwei Helferinnen aus der Schweiz und aus den USA greift sie Säcke voll mit Kleiderspenden, die von Einheimischen hergebracht wurden.
Per Smartphone koordiniert sie die Hilfe: Wie viele freiwillige Helfer gehen zur Essensausgabe an den Hafen? Wer bringt Kleiderspenden in die anderen Camps? Das alles wird täglich neu entschieden. Es gibt keine feste Struktur und auch keine feste Anzahl an HelferInnen, keine bestimmte Anzahl an Organisationen.
Seit 2012 besteht das selbstorganisierte Camp für Flüchtlinge hier auf dem Gelände eines stillgelegten Kinderferienlagers. Es wird von griechischen und ausländischen Freiwilligen betrieben und finanziert sich ausschließlich durch Sach- und Geldspenden. Camp Pikpa ist hauptsächlich für Familien gedacht, die bei der Flucht Angehörige verloren haben. Auch viele Minderjährige ohne Eltern sind hier, sagt Lazoudi, und Flüchtlinge mit behinderten Familienmitgliedern – alle, die ganz dringend Ruhe brauchen.
Ihr Camp diene zudem als Ausgangspunkt, um Hilfe in den anderen beiden Lagern zu organisieren“, berichtet sie weiter. Damit meint sie das von der griechischen Einsatzpolizei beaufsichtigte Camp Moria und das Camp Kara Tepe, welches von der Gemeinde Lesbos ins Leben gerufen wurde. Es ist ausschließlich für syrische Flüchtlinge zur Registrierung bestimmt.
Syriza-Politiker kamen – und waren überfordert
Besonders in Moria herrsche immer noch Ausnahmezustand. Damit die Flüchtlinge dort etwas zu essen haben, kochen die Freiwilligen hier in der Kantinenküche des ehemaligen Ferienlagers täglich Essen und transportieren es in die anderen Camps und zum Hafen, wo die Flüchtlinge auf das nächste Schiff warten.
Heute hat ein Spender knapp 50 Hühnchen hergebracht. Diese werden mit Reis zubereitet, dazu gibt es ein Brot, erzählt Lazidou. 800 einzelne Portionen werden es sein. „Trotzdem – irgendwann geht uns immer das Essen aus. Die Reihen zur Speisenausgabe werden immer vor ihrem Ende abgebrochen“, seufzt sie. Als die linke Syriza-Regierung im Januar die Wahlen gewonnen hat, habe sie viel mehr erwartet, sagt Lazidou. Immer wieder kamen Politiker zu Besuch – Premier Alexis Tsipras, die ehemalige Vize-Immigrationsministerin Tassia Christodoulopoulou. Doch nichts passierte. Die Regierung ist mit der Situation völlig überfordert.
Aber auch Dinge, die kein Geld erfordern, haben viel zu lange gedauert. „Bis vor ein paar Wochen zum Beispiel mussten Flüchtlinge, die am Strand im Norden der Insel ankamen, zu Fuß die 60 bis 70 Kilometer zu den Registrierungshotspots zurücklegen. „Jetzt endlich wurde das Beförderungsgesetz geändert, was verbot, illegale Einwanderer zu transportieren, und so werden seit Ende September Flüchtlinge mit Shuttlebussen von den Stränden abgeholt“.
Was macht die Bewegung vor Ort? Termine wie Infoabende, Diskussionsveranstaltungen, Demonstrationen und Versuche der praktischen Solidarität sammeln wir im Terminfeed zum Schwerpunkt Flucht und Migration auf bewegung.taz.de.
Auch gäbe es die Registrierungscamps erst seit knapp zwei Monaten. Die Menschen lebten davor auf der Straße, an den Stränden und auf Grünflächen. Lazidou: „Die Situation hat sich zwar verbessert, weil besonders durch die freiwilligen HelferInnen und unterschiedlichen Solidaritätsgruppen und NGOs etwas Ordnung ins Chaos gebracht wurde – menschenwürdig ist die Situation aber noch lange nicht.“
Wer bekommt das tragischere Foto?
Viele der griechischen HelferInnen kommen vor oder nach ihrer Arbeit hierher, ausländische Freiwillige opfern ihren Urlaub. Zu den Problemen, mit denen die Helfer zu kämpfen haben, gehört aber auch, dass manche der zahlreichen kleineren NGOs verschiedener Nationalität in einem Konkurrenzkampf zu stehen scheinen: Wer rettet zuerst – wer bekommt das tragischere Foto? In Mytlini, der Hauptstadt von Lesbos, sitzt Markus Markmeier in einem Café und wartet auf andere freiwillige Helfer. Gleich wird hier ein kurzes Meeting der Gruppe Volunteers Coordination Lesbos stattfinden.
„Die Koordination der einzelnen HelferInnen ist unheimlich wichtig, damit nicht unnötig Arbeitskraft verschenkt wird und auch dass man keinen mit seiner Hilfe nervt“, sagt der 18-jährige Saarländer. Die Freiwilligen hier machen das ja größtenteils nur kurzfristig. Es mangle dadurch an Kontinuität im Aufbau der einzelnen Organisationsstrukturen.
Markus hat gerade seine Schule beendet, reiste ein Jahr durch Europa und ist jetzt für zwei Wochen in Griechenland. „Man ist hier eigentlich Mädchen für alles“. Er gibt Essen aus, unterstützt behinderte Menschen, sucht nach deren Angehörigen in den Camps oder bringt sie zum Arzt.
Ja, es habe ihn schon wütend gemacht, sagt er, dass er im staatlichen Camp Moria, welches unter der Aufsicht der griechischen Polizei steht, auch ab und an als Sicherheitsmann fungieren muss. Teilweise gäbe es Rangeleien bei der Essensausgabe, denn es reicht nie für alle. Da muss er dann mithelfen, zu beruhigen. Das alles zu managen, sei ja eigentlich Aufgabe der Regierung und Europas.
Getränke, Schokolade, Obst
Das staatliche Camp Moria ist etwa 10 Kilometer von Mitilini entfernt gelegen. Der ehemalige Gefängnistrakt wird heute als Registrierungshotspot genutzt. Vor den zwei großen, von Polizisten bewachten Haupteingängen stehen Verkäufer mit ihren Snackwagen. Sandwiches, Getränke, Schokolade, Obst, aber auch Schlafsäcke und Klamotten werden hier angeboten. Verkäufer witterten hier schnell ein Geschäft. Selbst Vodafone ist hier vertreten, bietet in arabischer Schrift Telefonkarten für 10 Euro an – 1 GB Internet und 5 Euro für EU-Telefonate.
Hinter den Eingangstoren des Geländes stehen Hunderte Zelte. Stacheldrahtzaun umringt die Gitter des Registrierungsabschnitts. Jeder bekommt hier eine Nummer – dann heißt es warten. Das kann teilweise bis zu über einer Woche dauern. Wer kein Geld hat, bleibt hungrig. Kleidung, Unterkunft, Nahrung, Wasser – all das ist nicht geregelt und wird allein durch die Freiwilligen HelferInnen erträglich gemacht.
Auch das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen ist vertreten. UNHCR-Mitarbeiterin Katerina Kitidi sagt: „Eigentlich ist unsere Hilfe auf Katastrophengebiete spezialisiert.“ Doch die Zustände seien hier so schlimm, dass sie nun auch verstärkt in Griechenland arbeiten.
Gegen 7 Uhr Abends treffen die beiden Autos mit der Essensladung aus dem Camp Pikpa ein. Sofort bildet sich eine Menschentraube. Die freiwilligen HelferInnen schaffen es, die hungrigen Menschen in zwei Reihen aufzustellen. 800 Mahlzeiten können sie ausgeben. Weit über 1.500 Menschen stehen an. Viele von ihnen werden nichts bekommen.
Am Horizont tauchen wieder drei Boote auf
Am Strand von Skalas Skaminias im Norden der Insel stehen Ärzte, Rettungsschwimmer und Helfer und winken zwei ankommenden übervollen grauen Schlauchbooten auf den letzten Metern Mut zu. Rettungsschwimmer Marko aus Spanien springt ins Wasser, zieht das erste Boot mit zahlreichen Kleinkindern, Frauen und einigen Männern an Land. Sofort stehen die Ärzte bereit.
HelferInnen reichen Wärmedecken, frische Kleidung, heiße Getränke. Die Mitarbeiterin einer dänischen Hilfsorganisation leitet den Weg zum Camp. Eine ältere Frau aus Syrien sitzt leise weinend auf dem Boden, neben ihr steht ein junger Mann, der am ganzen Leib zittert. Drei weitere Boote zeichnen sich am Horizont ab. Die HelferInnen stehen bereit.
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