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Flucht aus SyrienGlückliche Tage in Schweden

Christen verlassen Syrien. Jede Flucht ist Schicksal und Politik. Die Cousine der Autorin floh Anfang des Jahres ohne ihren Mann.

In Relation zur Bevölkerung: Schweden nimmt sechsmal mehr Flüchtlinge auf als Deutschland Bild: reuters

Dreizehn Jahre habe ich sie nicht gesehen – meine Cousine aus Syrien. Beim letzten Besuch ging sie noch in die Schule, ein fröhliches Mädchen. Auf den alten Fotos macht sie Grimassen, zieht ihren Kaugummi lang und hält ihn in die Kamera. Heute ist sie fertig mit ihrem Studium, ist verheiratet, Mutter und Flüchtling.

Nie hätte ich gedacht, dass wir uns unter solchen Umständen wiedersehen. Sie, der Flüchtling, ich, die Privilegierte, die sich an Flucht nur noch schwach erinnert. Mein Vater, Christ aus der Türkei, war – wie die meisten Aramäer, so nennt man uns – Anfang der siebziger Jahre nach dem Militärputsch und der Kommunistenverfolgung nach Deutschland geflohen. Es hatte Anfeindungen, Straßenrazzien, Aufruhr gegeben.

Und jetzt wieder Pogrom, wieder Verfolgung. Christen im Irak auf der Flucht, Christen aus Syrien auf der Flucht. Muslime auf der Flucht, Kurden auf der Flucht. Als hätte es in der Region nie eine zivile Gesellschaft gegeben.

Aber das hier ist eine Familiengeschichte. Klar, wir wussten, in Syrien herrscht Diktatur: Als Hafiz al-Assad, der Vater des jetzigen Herrschers Baschar al-Assad, noch lebte, konnte ich bei Besuchen nicht einmal eine so harmlose Frage wie „Ist Syrien ein sozialistischer Staat?“ in der Öffentlichkeit stellen. Aus Angst vor den Spitzeln der Staatssicherheit war die Antwort auf solche Fragen stets „psst“.

Nachdem Baschar al-Assad im Jahr 2000 an die Macht kam, konnte man die neue Freiheit fast atmen: Internetcafés öffneten, junge Menschen machten politische Witze, die überdimensionalen Bilder des Präsidenten wurden abgehängt. Die geheimen Gefängnisse, in denen Menschen verschwanden, existierten zwar immer noch, auch Korruption und Schutzgelderpressungen durch die Polizei, aber die religiös liberale alevitische Regierung ließ die Menschen doch so weit in Frieden, dass sie ihren Glauben leben konnten, egal in welchem Gotteshaus.

Berührungsängste

Nicht immer war dabei das Nebeneinander der Religionen ohne Berührungsängste. Da war etwa die aramäische Nonne im Kloster Mar Takla in Maalula, die von dem jungen Aleviten und seiner russischen Frau ganz genau wissen will, welche Religion beide haben. Oder die sunnitische Schmuckverkäuferin mit Kopftuch, die die Nase über die Burka tragenden Frauen rümpft: „Sie verlassen nie das Haus; sie machen aber sehr schöne Schmuckarbeiten“, sagt sie.

Schöner aber waren die Berührungspunkte: Zu den christlichen Feiertagen standen die Bettlerinnen in ihren Burkas noch vor den Kirchenbesuchern am Tor der Kirche, weil sie wussten, die Christen würden ihnen Almosen geben. Die kurdischen Kinder der Nachbarschaft standen am Ostermorgen als Erste vor der Tür der christlichen Familien mit einem „Edawa Pirozbe“, „Frohes Fest“, auf den Lippen, um sich Ostereier und Süßes abzuholen. Muslimische Frauen pilgerten jedes Jahr am 8. September zum Kloster Saidnaya, um zur Muttergottes zu beten.

Erst in den 90er Jahren hatte ich erfahren, dass wir Verwandte in Syrien haben. Meine Eltern hatten es uns bis dahin nicht erzählt. Die Familie ist sowieso über alle Kontinente zerstreut.

In Syrien haben die Aramäer Schulen, Klöster, Busunternehmen, andere Geschäfte. Zu den Feiertagen werden Gottesdienste im staatlich syrischen Fernsehen gezeigt. An Hauswänden sind Graffitis in aramäischer Sprache.

Meine Cousine Hayat – Hayat heißt Leben – war Anfang des Jahres wegen des Bürgerkriegs aus Syrien nach Schweden geflohen. Mit falschem Ausweis. In Schweden beantragte sie Asyl. Schwanger war sie damals. Im Exil hat sie ihr Kind gekriegt. Ihr Mann ist noch immer in Syrien.

Anfangs wohnte sie in einem Asylbewerberheim. Jetzt lebt sie mit ihrem Bruder, dessen Frau und seinen zwei Kindern in einer Mietwohnung in Södertälje, einer kleinen Stadt, 40 Kilometer südwestlich von Stockholm.

Ungewissheit

Von ihrer Wohnung in der siebten Etage ist ein Nadelwald, darin ein See, zu sehen. „Ihr habt Glück, dass ihr in Schweden seid“, sage ich. „Noch haben wir keinen glücklichen Tag in Schweden erlebt“, sagt meine Cousine. Ich bereue den Satz. Sehe, wie die Augen meiner Cousine ins Leere blicken. Denke, sie hat gerade Mutter, Mann und Heimat an die Ungewissheit verloren. Wie kann ich da sagen, sie müsse glücklich sein?

Raid, ihr Bruder, erzählt, wie er und seine Familie zuerst nach Istanbul gingen und dort auf einen Schleuser warteten, der sie per Schiff nach Europa bringen sollte. Der aber stellte sich als Betrüger heraus. Er, ein Aramäer aus Deutschland, ein Spieler, nahm ihnen alles Geld ab und verzockte es.

Raid ging mit seiner Familie zurück nach Syrien. Weil er nicht in die syrische Armee eingezogen werden wollte, floh er ein zweites Mal. Diesmal mit Erfolg.

„Die Christen sind die Verlierer dieses Bürgerkriegs. Sie wollten ihn am allerwenigsten und sie bezahlen den größten Preis“, sagt Raid. „Alle sind Verlierer“, sage ich. „Ja, ja“, sagt er, „die sogenannten Dschihadisten sind Terroristen, die jeden töten, der anders ist als sie, selbst Muslime, deren Lebensführung ihnen nicht passt.“ Sie glauben, sie hätten das Monopol über die richtige Religion und den richtigen Islam, erklärt er. Die meisten Syrer hätten gewusst, dass es so kommen würde, dass es zu einem islamistischen Terror kommen würde, wenn das Regime erst einmal geschwächt ist.

Facebook als einzige Verbindung

Hayat und ihre Schwägerin hängen mit den Köpfen über ihren Handys: Facebook – die einzige Verbindung in die Heimat. Die achtjährige Tochter der Schwägerin schaut schwedisches Fernsehen. „Soll ich dir sagen, was ’tjugofem‘ heißt“, fragt sie. Ja, sage es. „Fünfundzwanzig!“ Im Viertel habe sie schon eine Freundin, mit der spiele sie oft. Ihre Mutter fotografiert indes das Tablett mit dem Kaffee, der vor uns steht. „Ich schicke das Foto meiner Schwester, sie soll teilhaben an unserem Kaffee“, erklärt sie.

Hayat lädt ihr Handy und stillt ihr Kind. Und Raid erzählt, wie schwierig es gewesen sei, eine Wohnung in Schweden zu finden. Für die Miete müssen sie selbst aufkommen. Sie wären lieber im Asylbewerberheim geblieben. Aber seit dem 1. April 2014 gebe es ein neues Gesetz, danach dürfen sie, wenn sie als Flüchtlinge anerkannt sind, nicht mehr im Asylbewerberheim leben.

Zweitausend syrische Flüchtlinge, fast alle Christen, sind im letzten Jahr nach Södertälje gekommen, in diesem Jahr werden es noch mehr. Die kleine Stadt ist damit überfordert. In Södertälje haben Sozialdemokraten, Linke und Grüne die Mehrheit, doch auch die rechtspopulistischen Schwedendemokraten und die Nationaldemokraten sitzen im Gemeinderat.

Berührungspunkte

Ein Viertel der 90.000 Einwohner von Södertälje sind Aramäer. Die ersten kamen in den 60er Jahren aus der Türkei. Nirgendwo gibt es eine größere aramäische Exilgemeinde in Europa. Hier haben sie 1971 die Fußballmannschaften Assyriska FF und Syrianska FC gegründet, 2006 eine Fußballarena, die Södertälje Fotbollsarena, errichtet und zwei Fernsehsender aufgebaut.

Aber wie schafft ihr es, ohne Arbeit die Miete zu bezahlen?, frage ich Riad. „Wir haben Ersparnisse, die müssen wir erst aufbrauchen. Und bald muss ich zum Arbeitsamt, dann geben sie mir auch Geld.“

Die Arbeitslosigkeit in Södertälje liegt bei 14,6 Prozent. Sie ist fast doppelt so hoch wie der schwedische Durchschnitt. Bei den Einwanderern liegt die Quote sogar bei 27 Prozent – trotz zweier großer Arbeitgeber: der Lkw-Fabrik Scania und des Pharmakonzerns Astra Zeneca.

Raid ist Schneider. Gelegentlich hilft er in einer aramäischen Schneiderei aus. Aber er will lieber für Schweden arbeiten. „Die sind korrekt, die lassen dich keine Überstunden machen. Wenn doch, bezahlen sie sie“, glaubt er.

Die Aramäer, die einst aus der Türkei kamen, verstehen nicht, warum die Aramäer aus Syrien fliehen. Sie sollten sich das Exil nicht antun, sollten Widerstand leisten, durchhalten. Warum sie das sagen? Weil sie wissen: Das Exil ist das Ende der aramäischen Kultur. Für Flüchtende gibt es selten ein Zurück.

„Wenn wir könnten, würden wir noch heute nach Syrien gehen“, sagt meine Cousine. „Aber wie sollen wir dort leben?“

Leyla Dere, 40, ist Aramäerin und kam als Neunjährige nach Deutschland.

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