Florentina Holzinger inszeniert „Sancta“: Nackte Nonnen auf Rollerskates
Choreografin Florentina Holzinger inszeniert in Schwerin Paul Hindemiths „Sancta“. Die Oper handelt von einer Nonne, die mit ihrer Sexualität kämpft.
Dass der Schweriner Intendant Hans-Georg Wegner mit seiner Einladung an Florentina Holzinger zu ihrem ersten Ausflug ins Genre Oper richtig lag, belegen allein schon die Welle an Aufmerksamkeit vorab, der Jubel des Premierenpublikums, die komplett ausverkaufte Vorstellungsserie und der Zulauf von Kooperationspartnern für dieses Projekt. Der Staatsoper Stuttgart war es 1922 nicht gelungen, die geplante Uraufführung von Paul Hindemiths Kurzoper „Sancta“ zu realisieren, Holzinger holt da also nach über einhundert Jahren etwas nach. In der Volksbühne in Berlin und bei den Wiener Festwochen, wo Holzingers Inszenierung ebenso gezeigt werden wird, passt ihre Ästhetik sowieso in die Programmatik.
Die Oper von Hindemith zum Libretto von August Stramm haben Holzinger und Nikola Knežević (Ausstattung) wirklich inszeniert. Mit allem Mut zu nackten Tatsachen und der geballten musikalischen Wucht, die Marit Strindlund mit dem Mecklenburgischen Staatsorchester aus dem Graben beisteuert. Man kann durchaus nachvollziehen, dass diese entfesselte musikalisch-szenische Ekstase, mit der die Geschichte einer Nonne erzählt wird, die mit dem Erwachen ihrer Sexualität kämpft, damals, in Zeiten intakter gesellschaftlicher Tabus, auf Widerstand stieß.
Dieser, mit seinen Mitteln gelungene, eigentliche Ausflug in die Oper macht aber nur eine knappe halbe Stunde des insgesamt zweieinhalb Stunden dauernden Abends aus. Der Hauptteil löst sich von Hindemith und vom Genre Oper. Holzinger behauptet die formale Gliederung einer katholischen Messe, entfesselt aber eine revueartige Show, bei der die ihre Nacktheit ausstellenden zwei Dutzend Performerinnen Holzingers und mit bewundernswerter Souveränität auch die fabelhaften Sängerinnen Cornelia Zink (als Susanna), Andrea Baker (Klementine) und Emma Rothmann (als Alte Nonne) mitnehmen.
Der theatralische Zauber katholischer Rituale
Zu dieser „Messe“ gibt es nicht nur Bach und Cole Porter, sondern auch neu Komponiertes von Johanna Doderer, Born in Flamez, Stefan Schneider, Nadine Neven Raihani und etlichen anderen. Den Stimmungswechsel beherrscht Strindlund durchweg souverän. Und so geht es in der Messe dem theatralischen Zauber katholischer Rituale mit Lust an den Kragen beziehungsweise an die Wäsche. Es gibt lesbische Liebesakte, zwei Frauen, die an einem riesigen Neonkreuz mit einander beschäftigt sind, und eine Performerin, die als lebender Klöppel eine Kirchenglocke zum Klingen bringt.
Dazu kommt eine Päpstin am Ausleger eines Krans, die ihre Erzählung von Adam und Eva als witzige Einlage mit Publikumsbeteiligung zelebriert. Dazwischen eine schlurfende, in Englisch, Deutsch und Schweizerdeutsch brabbelnde Jesusgestalt, die das Publikum unterhält. Schließlich ein Abendmahl, für das tatsächlich ein frisch entnommenes Stück Menschenfleisch die Überlieferung beim Wort nimmt (oder es soll).
Für Action sorgen immer wieder nackte Nonnen auf Rollschuhen. Sie machen den musikalisch evozierten Hauch von „Sister Act“ szenisch zu einem Sisters-Action-Spektakel.
Eins der eindrucksvollsten Bilder eines feministischen Angriffs auf die männlich geprägten Bastionen der religiösen Überlieferung ist die Zertrümmerung von Michelangelos Version, in der Gott Adam zum Leben erweckt. Das Bild bekommt erst Risse und wird dann von den kletternden Performerinnen zertrümmert. Alles Männerbilder – ist schon klar. Aber die Zerstörung als radikale Lösung?
Feministismus hat den Zeitgeist im Rücken
Schlingensief ist seit 14, Kresnik seit 5 und Nitsch auch schon seit 2 Jahren tot. Florentina Holzinger aber lebt und sprüht vor Energie. Auch mit dieser „Opernperformance“, wie sie das Ganze zutreffend nennt. Sie ist längst via Volksbühne und eingeschworener Fangemeinde eine etablierte Marke, der niemand von den Herren mit ihren längst in den Kunstbetrieb integrierten Grenzüberschreitungen auf dem Markt einer potenziell skandalträchtigen Aufmerksamkeit in die Quere kommen könnte. Allerdings sind die Zeiten, da Kunst mit gezielten Tabuverletzungen der Wirklichkeit (mindestens) vors Schienbein trat, längst vorbei.
Hierzulande (und in Österreich, versteht sich) gehört auch Holzingers exzessiv ausgestellte Fixierung auf weibliche Körperlichkeit, sprich den nackten weiblichen Körper, zum Kern des liberal freiheitlichen Kunstverständnisses. Zumindest so lange feministische Selbstermächtigung den Zeitgeist so wie jetzt im Rücken hat. Das erlaubt freilich den Blick auf die Show als solche, die nicht immer das Erregungsniveau hält, das sie behauptet. Die Musik fängt solche Hänger aber meist auf.
Am Ende lässt sich das Publikum ganz musicallike auf den gemeinsamen Gesang von „Don’t dream it, be it“ ein und bereitet so vor allem der großen Show einen Triumph. Und dem Spiel mit der (weiblichen) Nacktheit als ein Markenzeichen, das offensichtlich funktioniert. Wäre die allein das feministische Statement, so bliebe das freilich nur die halbe Wahrheit.
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