Flora-Langzeitaktivist über Sinn und Zweck: „Man möchte ja nicht als Berufsjugendlicher enden“
Andreas Blechschmidt ist das Gesicht der Roten Flora – obwohl die offiziell gar keinen Sprecher hat.
taz: Herr Blechschmidt, an welche Stimmung erinnern Sie sich, wenn Sie an die ersten Tage der Flora-Besetzung denken?
Andreas Blechschmidt: An Aufbruch. Und Euphorie. Es ging nicht nur darum, ein millionenteures Musicalprojekt zu verhindern. Wir spürten auch die Chance auf etwas Neues, nicht Festgezurrtes.
Hat die Flora Sie politisiert?
Ich war vorher nicht per se unpolitisch. Meine Eltern waren brave SPD-Wähler, ich habe damals schon Zivildienst gemacht statt Bundeswehr, ich hatte Gemeinschaftskunde als Leistungskurs. Aber politisiert habe ich mich erst während der Besetzung der Häuser in der Hafenstraße. 1986 wohnte ich als Student in der Hamburger Innenstadt und bekam während der Demos die Panzer des Bundesgrenzschutzes und die Polizeiaufmärsche hautnah mit. Das war ein Gefühl von Bürgerkrieg. Ich fragte mich: Was ist das für eine Gesellschaft, die Menschen, die einfach nur in Häusern leben wollen, so massiv bekämpft? Als die Flora in ein Musicaltheater umgewandelt werden sollte, war klar, dass ich mich engagieren würde.
Wenn Sie damals behauptet hätten, dass die Flora noch in 25 Jahren als besetztes Haus existieren wird, hätten Ihnen die Leute den Vogel gezeigt.
Wir hatten ja nicht von Beginn an die Strategie, einen politischen Besetztstatus zu etablieren. Wir sind in eine Dynamik geraten. Am Anfang sollte die Besetzung ja auch nur der politische Hebel sein, um eine vertragliche Lösung durchzusetzen. Erst als die Verhandlungen mit dem Senat Anfang der 90er scheiterten, merkten wir, dass die Besetzung als Organisationsform politisch richtig ist, weil das für uns die größte Unabhängigkeit bedeutet. Solange wir die politische Stärke besitzen, diesen Status zu verteidigen, werden wir das auch tun.
Gewalt ist für Sie dabei auch ein legitimes Mittel?
Es ist legitim, auf gewalttätige Verhältnisse mit Gegengewalt zu reagieren.
Andreas Blechschmidt
49, studierte Literatur, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sowie Sozialpsychologie an der Uni Hamburg und arbeitete als Altenpfleger. Er ist seit 1989 in der Roten Flora aktiv und schreibt unter anderem für die Jungle World über Gentrifizierung und Rechtspolitik.
Hat sich diese Haltung aus Ihren Erfahrungen in der Flora entwickelt?
Durch Unterschriften und Menschenketten hätten wir damals den Musicalbau nicht verhindert. Es brauchte eine Bauplatz-Besetzung. Es brauchte auch mal einen Bagger, der nachts brennt. Wenn man Gesetze nicht überschreitet, verliert man ein großes Stück politische Stoßkraft. Natürlich lehne ich physische Gewalt ab, ich habe ja nicht umsonst den Wehrdienst verweigert. Sich zu wehren, wenn Polizisten in eine Demonstrantenmenge einprügeln, finde ich aber nach wie vor richtig.
Seit dieser Erkenntnis hat sich nichts geändert?
Nein, das gilt noch heute. Natürlich reden wir in der Flora nicht dauernd darüber, welchem Politiker man jetzt noch auf die Hütte rücken soll. Im normalen Flora-Alltag berührt einen das ja seltener. Aber es ist eine Option, die man sich offen halten muss.
Was haben Sie bei der Besetzung gelernt?
In der Flora existiert eine Streitkultur, die ich als gewinnbringend empfinde. Ich glaube, dass man Widersprüche und Konfrontationen nicht aussitzen kann. Sondern dass sie geführt werden müssen. Mit offenem Visier. Natürlich klappt das auch in der Flora nicht immer. Leute entziehen sich ja auch Konfrontationen.
Weshalb?
Zum Beispiel, weil sie das Gefühl hatten, dass es in der Flora doch Hierarchien gibt. Dass manche Menschen wichtiger sind als andere. Ich selbst werde häufig als jemand wahrgenommen, der mehr zu sagen hat als andere. Weil ich schon so lange dabei bin.
Warum sind Sie denn geblieben?
Die Flora hat in ihren 25 Jahren sicherlich viele Leute verschlissen. Leute, die sich engagiert haben und dann enttäuscht wurden. Denen es nach einer Weile nichts mehr gegeben hat, sich hier politisch zu engagieren. Für mich hat die Balance zwischen Engagement und politischer Wirkung immer gestimmt. Manche haben ihr Studium abgeschlossen und ihre akademische Karriere verwirklicht, andere haben früher in der Siebdruckerei der Flora gearbeitet und sind jetzt selbstständige Grafiker. Ich habe mich biografisch anders entschieden.
War das eine bewusste Entscheidung?
Ja. Für ein politisches Leben.
Vor allem seit den 90ern wird die Flora nicht mehr nur mit Protest assoziiert, sondern auch mit der Aufwertung eines Stadtteils. Das Schanzenviertel ist auch immer hipper und teurer geworden, weil ihm die rebellische Aura um die Flora so gut steht.
Mit dem politischen Ziel, Gentrifizierung ernsthaft zu bremsen, sind wir gescheitert. Trotzdem: Dass die Flora zum touristischen Hotspot geworden ist, ist ja nur die halbe Wahrheit. Wir haben auch politische Arbeit geleistet. Wir haben Gentrifizierung schon sehr früh reflektiert. Den Diskurs über die zwiespältige Rolle der Linken bei der Gentrifizierung, der in Hamburg 2009 aufkam, hatte sich die Flora schon zehn Jahre zuvor erarbeitet.
War die Erkenntnis, dass man sich der Verwertung letztlich nicht entziehen kann, nicht dennoch bitter?
Das war keine Krise für uns. Das war die Bestätigung dafür, auf keinen Fall eine vertragliche Lösung für die Flora anzustreben. Weil man sich sonst noch verwertbarer macht, als man es sowieso schon ist. Es ist immer die Frage, ob man das Richtige im Falschen leben kann, das ist klar. Aber indem wir – unter anderem – keine Verträge mit der Stadt abschließen, zeigen wir zumindest, dass wir keinen Frieden mit den Verhältnissen schließen. Nicht den Weg vom Straßenkämpfer zum Außenminister gehen. Oder von einer radikalökologischen Partei hin zu einer Partei, die in Moorburg Ja zu einem neuen Kohlekraftwerk sagt.
Wenn Sie am Anfang Euphorie empfanden, mit welchem Gefühl blicken Sie jetzt auf die Flora?
Mit dem Gefühl, Teil einer politischen Bewegung gewesen zu sein, die es geschafft hat, eine radikale Gegenöffentlichkeit zu verteidigen.
Warum sprechen Sie in der Vergangenheit?
Nicht, weil etwas vorbei ist. Ich denke die Menschen noch mit, die mal Teil der Flora waren und heute in anderen Lebenszusammenhängen stehen. Die Flora hat in den vergangenen Jahrzehnten viele Menschen berührt. Politisch. Aber auch einfach biografisch. Als ich vor ein paar Jahren mal an der Flora vorbeikam, standen davor zwei Männer, die an einem Cocktailtisch Sekt tranken. Sie kamen gerade aus dem Standesamt in Altona und wollten hier auf ihre Ehe anstoßen, weil sie sich in der Flora auf einer queeren Party kennengelernt hatten. Das waren keine Autonomen. Für sie war die Flora ein Ort, wo sie mal gefeiert hatten.
Was ist von der Flora als Ort zum Feiern noch übrig?
Die Flora hat sich als Ort der radikalen Linken verengt, das stimmt. Früher die Kunstaktionen und Theaterperformances in der Flora, die waren nicht genuin linksradikal. Diese Vielfalt ist uns ein Stück verlorengegangen. Das empfinde ich als Mangel, wir sind eigentlich kein Autonomen-Bunker. Es wäre gut, wenn wir mehr Leute ansprechen. Deshalb bauen wir ja gerade das Café um, damit es wieder für mehr Leute attraktiv wird.
Wie würden Sie Ihre persönliche Beziehung zur Flora beschreiben? Sie feiern dieses Jahr ja sozusagen Silberhochzeit.
Eine Ehe ist es nicht. Dieser Vergleich, dass man mit etwas verheiratet ist, hinkt für mich.
Lebensabschnittsgefährtin?
Schon eher. Mit Höhen und Tiefen. Eine Langzeitbeziehung.
Mit Option auf Trennung?
Darüber habe ich nachgedacht, auch wegen des symbolischen Datums in diesem Jahr. Man möchte ja nicht als Berufsjugendlicher enden. Will ich mal was anderes machen, als meinen Hintern ins Schulterblatt 71 zu tragen? Viele Debatten in der Flora kehren immer wieder. Natürlich nehme ich die Diskussionen ernst, aber der Erkenntnisgewinn ist für mich nach 25 Jahren nicht mehr so groß. Also ja: Natürlich gibt es die Option, zu gehen. Mein Horizont ist da nicht auf die Flora beschränkt. Ausbeutung in neoliberalen Verhältnissen findet überall statt. Ich hätte auch ohne Flora genug zu tun.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis