Flashmob des Symphonie-Orchesters: Halleluja Unterhosen
Auch in der klassischen Musik will man dort hin, wo halt die Menschen sind: Das Deutsche Symphonie-Orchester lud zum „Symphonic Mob“ in eine Mall.
M an hängt gelangweilt rum auf dem Bahnhof und wartet auf den Anschlusszug, und plötzlich packt einer eine Violine aus und fidelt darauf wie der Teufelsgeiger Paganini persönlich. Ein Typ kommt hinzu, stimmt in das Gegeige ein mit einem Bariton wie Dietrich Fischer-Dieskau, und man fragt sich in diesem komplett überraschenden Moment, so wie alle sich das in dem Bahnhof fragen: Was passiert hier eigentlich gerade? So ungefähr läuft das bei Flashmobs mit Musikdarbietungen, die ziemlich oft im Bereich der Klassik angesiedelt sind. Zig viral gegangene Handyaufnahmen zeugen davon.
Das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin hat sich vor zehn Jahren ein vergleichbares Flashmob-Konzept ausgedacht, das vergangenes Wochenende mal wieder aufgeführt wurde. Eines im XXL-Format. Nicht nur ein kammermusikalisches Trio sorgte hier bei Besuchern und Besucherinnen einer Mall am Potsdamer Platz für Erstaunen, sondern gleich ein ganzes Orchester. Besser gesagt: das größte Orchester Berlins, Profis gemeinsam mit Laien, plus Chor und einer Harfe. Über 1.000 Menschen sollen es gewesen sein, die hier gemeinsam Gassenhauer der Klassik wie das Trinklied aus Verdis „La Traviata“ oder Händels „Halleluja“ vorgetragen haben.
In Japan wird einmal im Jahr die „Ode an die Freude“ aus Beethovens Neunter von zehntausend Menschen in einem Stadion geschmettert, das ist noch einmal eine ganz andere Gigantomanie. Aber tausend Bläser, Streicher und Triangelspieler sind auch ganz ordentlich. Da kamen also so manche Mall-Besucher direkt vom Unterhosenkauf im H&M und plötzlich schmetterte ihnen aus zig Kehlen und einem gewaltigen Klangkörper voller Inbrunst entgegen: „Halleluja“.
Das Orchester von nebenan
„Symphonic Mob“ nennt das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin diese Aufführungspraxis, bei der es sich nahbar, lässig und unprätentiös zeigt. Also genau so, wie solche Orchester in der Vorstellung vieler, die es sowieso nicht so mit Klassik haben, eigentlich überhaupt nicht sind. Raus aus den steifen Konzertsälen, hin zu den Menschen in ihrem natürlichen Habitat, der Shopping-Mall, das ist die Grundidee für die Symphonic Mobs, die in Berlin erfunden wurden und längst auch anderswo durchgeführt werden.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Kulturpessimisten mit Hang zum Konservatismus würden vielleicht einwenden: Mit einer derartigen Darreichungsform wird das hohe Gut klassische Musik verramscht wie ein Paar Socken auf dem Wühltisch in einem der Klamottenläden in der Mall. Doch der Klassikbetrieb, möchte er nicht zunehmend erstarren, ist darauf angewiesen, ein Publikum zu erreichen, das nicht nur aus ein paar honorigen Dauerkartenbesitzern im gesetzten Alter besteht. Dafür geben selbst die renommiertesten Orchester ihre Casual-Konzerte und dafür lassen auch altehrwürdige Klassikplattenfirmen Vivaldis „Vier Jahrezeiten“ von einem DJ remixen.
Und das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin gab wirklich alles, um das lästige Image des Elitären abzustreifen. Selbst die beiden Solosänger, die auftraten und eindeutig keine Laien waren, trugen Turnschuhe und überhaupt das genaue Gegenteil einer typischen Garderobe für gehobene Anlässe.
Irgendwie zufriedene Menschen
T-Shirts, die die Daten der bisherigen Symphonic-Mob-Auftritte auf dem Rücken zeigen, so wie Rockband-T-Shirts Tourdaten, wurden verschenkt, genauso wie Äpfel, auf die das Logo des Orchesters mit den drei Buchstaben DSO geprägt wurde. Mehr Ranschmeiße war also kaum vorstellbar.
Trotzdem wirkte der Flashmob nicht so, als wären hier gestandene Profis mit Allüren bloß von der nervigen PR-Abteilung dazu gezwungen worden, eine Weile lang ihre eigene Würde zu verletzen, indem sie mit ein paar Laien-Spielern vor dem Shopping-Pöbel auftreten mussten.
Man blickte vielmehr in irgendwie zufriedene Gesichter in dem Orchester, und das Publikum mit den Einkaufstaschen in den Händen wirkte genauso beglückt wie die DSO-Dirigentin Anna Skryleva, die den ganzen Spaß in der Mall anleitete. Damit hat sich der Symphonic Mob ein „Halleluja“ wirklich verdient.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Donald Trump wählt seine Mannschaft
Das Kabinett des Grauens
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist