Filmstart „The Forbidden Room“: Alles wie früher, nur übertrieben
Das Bild wirft Blasen, zerläuft. „The Forbidden Room“ von Guy Maddin ist ein Film aus Filmen, die nicht mehr existieren – oder nie existiert haben.
In einer Reportage aus dem Jahr 1925 schreibt Joseph Roth über ein Erlebnis im Hafen von Marseille: „Das Kino liegt gegenüber den Schiffen. Von der See aus kann der Mensch, der die Freuden des Kontinents lange entbehrt hat, die großen, bunten Plakate mit dem Feldstecher sehen. Das Kino heißt bescheiden ‚Kosmos-Theater‘. Man gibt den Film von den ‚Roten Wölfen‘.“
Und dann erzählt Roth von diesem Film, einer wilden Räubergeschichte aus den Abruzzen, im Zentrum eine Frau namens Margot, die von einer Bande entführt und in einen Turm gesperrt wird. Das Seltsame daran ist laut Guy Maddin und seinem Koregisseur Evan Johnson nur: Man findet nichts über diesen Film. Die beiden haben für ihren Film „The Forbidden Room“ Recherchen betrieben und sind auf nichts, keine anderen Spuren als die in Roths Reportage gestoßen. „Vielleicht“, sagt Johnson, „hat er den Film einfach erfunden.“
„The Forbidden Room“. Regie: Guy Maddin. Mit Roy Dupius, Clara Furey u.a. Kanada 2015, 130 Min.
In jedem Fall jedoch gibt es die „Roten Wölfe“ nun (wieder). Maddin und Johnson haben den Film nach den kargen Vorgaben Roths selbst gedreht, halb rekonstruiert, halb geträumt. Und nicht nur diesen. „The Forbidden Room“ ist ein Film aus Filmen, die nicht mehr existieren. Und die jetzt, erträumt, erfunden, doch wieder, neu in der Welt sind.
Es geht dabei nicht um getreue Rekonstruktionen. Aus dem bloßen Titel und ein paar Ideen zu Regisseur oder nationalkinematografischem Kontext wird eine Geschichte gesponnen, die meist noch dazu recht absurd und verrückt ist.
„Wie man ein Bad nimmt“
Die Werke tragen Titel wie „Der Traum des Schnurrbarts“ – und ganz buchstäblich ist es hier ein Schnurrbart, der träumt – oder „Der Januskopf“, eine Jekyll-and-Hyde-Geschichte – das verlorene Original ist von Murnau–, oder, ganz anderes Ende der Kinogeschichte, „Wie man ein Bad nimmt“. Da stammt die Inspiration von einem vermutlich leicht anzüglichen „Lehrfilm“ von Dwain Esper von 1937, der im selben Jahr auch einen Film mit dem Titel „Wie man sich vor dem Ehemann auszieht“ gedreht hat (den gibt es auf YouTube zu sehen).
Mit dem Film zum Bad beginnt und endet „The Forbidden Room“. Man sieht einen schmierigen älteren Mann im Bademantel, der sehr banale Dinge darüber erzählt, wie man, eben, ein Bad nimmt. Und was man sieht, sind Badewannen und Männer, die, eben, ein Bad nehmen. Ein bisschen seltsam ist das schon, der Text ergibt nicht immer Sinn. Es hat ihn, vielleicht ist das der Grund, ein Dichter geschrieben, sogar einer der größten amerikanischen Gegenwartsdichter, John Ashbery, ein Freund von Guy Maddin.
Das also der Umweg, der zu dem führt, was man sieht: der Titel eines erfundenen Films, ein von diesem Titel inspiriertes Quasigedicht als Banalnarration, ein Film, der ziemlich akkurat aussieht, wie ein 1937 entstandener Film auf YouTube heute aussehen könnte. Und das alles zu einem provozierend banalen Thema: Wie man es richtig anstellt, ein Bad zu nehmen.
Dabei fällt „Wie man ein Bad nimmt“ ziemlich heraus aus dem Ganzen. Weil es kein Stummfilm ist. Und weil alle anderen der Filme, die in „The Forbidden Room“ halluziniert werden, narrativen Charakter haben. Es wird von Figuren erzählt, und seien es Liebhaber, die sich in hässliche braune Aswang-Bananen verwandeln.
Kreuz und quere Reise durch neue alte Filme
Ein Spielort, der mehrfach auftaucht, ist ein Unterseeboot, dessen Mannschaft erstens keine Ahnung hat, wo der Kapitän abgeblieben sein mag. Und zweitens, das ist das größere Problem, haben sie ein Bombengelee an Bord, das explodieren wird, wenn sie über eine bestimmte Wassertiefe hinaus aufsteigen. Außerdem, als wäre das nicht schon genug, taucht plötzlich ein bärtiger Waldmann an Bord auf, von dem keiner weiß, wie er dort hinkommt.
Für die Zuschauer freilich ist er ein Bindeglied, denn er wird der Mann sein, der in der Geschichte der „Roten Wölfe“ die Hauptrolle spielt: den Helden, der die entführte Margot am Ende den Händen der Räuber entwindet. Bis zu diesem Ende geht es allerdings noch über Stock und Stein, durch viele neue alte Filme hindurch, mit Wendungen, die keiner voraussieht, mit Abschweifungen, bei denen man zwischendurch glatt vergisst, wo man ist, wo man war und wo man womöglich noch hinwill.
Einen Zugpsychiater lernt man kennen, einen entflohenen Häftling, um Mord und Totschlag geht es, um perverse Liebesgeschichten, Sex and Crime, ein ganzes Arsenal von Fantasien, mit denen sich Guy Maddin und Evan Johnson verlorene Filme ins Kino zurückgeträumt haben.
Stummfilmfetisch und Freud‘sche Provenienz
Maddin, das muss man wissen, ist ein profunder Kenner der Kinogeschichte, aber sein Verhältnis zu ihr ist hochgradig fetischistisch. Sein eigentlicher Fetisch: der Stummfilm. Wieder und wieder, in Kurzfilmen meist, wendet er sich von der Kinogegenwart ab und erfindet sich selbst das Stummfilmkino zurück. Es gibt wenig, was er dabei so sehr verachtet wie Realismus. Bei ihm ruckeln die Bilder, das Schauspiel ist outriert, Zwischentafeln erklären und liefern Dialoge. Alles wie früher.
Noch dazu jagt eher das Unbewusste Freud’scher Provenienz durch seine Bilder als das klare Denken des Tages. So weit kennt man das, so weit fügt sich auch „The Forbidden Room“ in das Werk. Dass es Maddin gelungen ist, ein All-Star-Dream-Team der Arthouse-Darsteller zu versammeln, von Charlotte Rampling bis Mathieu Amalric, von Jacques Nolot bis Udo Kier, zeigt, wie weit er sich selbst inzwischen in den Kanon vorgearbeitet hat.
Und doch ist „The Forbidden Room“ noch einmal anders. Die Tatsache, dass man nicht einfach in der Geschichte zurückkann, ist den Maddin-Stummfilm-Reimaginationen in ihrer ganzen Absurdität, im Übertriebenen und Grotesken all ihrer Züge immer schon eingeschrieben gewesen. Auch falsche Spuren des Verbrauchs, des Zerfalls des Bildmaterials gab es früher. Gemeinsam mit Evan Johnson treibt er das künstliche Altern der Bilder diesmal jedoch auf die Spitze.
Die Anfälligkeit des Analogen für den Zerfall nachbauen
Nicht nur in Bildausfällen und Ruckern, Kratzern oder Laufspuren. Im Grunde ist das Bild in „The Forbidden Room“ vielmehr in ständiger Auflösung begriffen, wirft Blasen, zerläuft, Gesichter verschwimmen, verwandeln sich unter den ungläubigen Augen des Betrachters. Was natürlich mit der Geschichte und den Geschichten selbst korrespondiert, von denen sich eine immer schon in eine andere transformiert, dann anderswohin weitererzählt wird, bis man, oft vier Substorys später, wieder dort ist, wo man, ohne sich ganz genau zu erinnern, schon einmal war.
Diese Form von Vertigo befällt aber auch das Bild. Sein Zerfall ist an vielen Stellen geradezu konvulsivisch. Wie schmelzendes, sich ständig umschmelzendes Zelluloid, das unter der Projektorlampe durchbrennt und doch weiterläuft. Gerade weil man so etwas mit analogem Bildmaterial nicht anstellen kann, ist es schön. Und gerade weil Maddin und Johnson das Digitale mit Enthusiasmus ergreifen und vor allem eher ausstellen als verbergen, reißt es hin. In künstlichen datamoshingartigen Rechnereffekten bauen sie die Anfälligkeit des Analogen für den Zerfall nach.
Es handelt sich aber keineswegs um historische Rekonstruktion, jene hanebüchene Haltung, mit der man heutzutage Stadtschlösser wiederaufbaut. Vielmehr ist das eine Liebe zum Alten, die mit einer Liebe zum äußersten Stand des heute Möglichen verschmilzt. Vielleicht Nostalgie, aber eine, die mit dem Wunsch nach Reinheit und Unverfälschtheit gar nichts zu tun hat. Die Aneignung ist so zart wie brutal. Sie rettet, indem sie erfindet. Und so, nur so ist es gut.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen