Filmfestspiele mit Émile Zola und Joker: Von Anfang bis Ende begeisternd
Dreyfus als Drama, der Superschurke Joker als fragiler Underdog und eine narzisstische Tänzerin als Verführerin bei den Filmfestspielen von Venedig.
E rste Überraschung: Roman Polanski kann mit seinem Beitrag zum Wettbewerb der 76. Mostra überzeugen. Mit einem Kostümfilm über die Dreyfusaffäre, die trotz penibler Ausstattung und akribischer Rollenbesetzung praktisch keinen Staub angesetzt hat. „J’accuse“, nach dem berühmten offenen Brief Émile Zolas benannt, in dem sich der Schriftsteller 1898 gegen die französische Militärführung und ihre Rolle bei der unrechtmäßigen Verurteilung des Artillerie-Hauptmanns Alfred Dreyfus wegen vermeintlichen Landesverrats wandte, greift in seiner Demonstration der tiefsitzenden antisemitischen Ressentiments, in diesem Fall der französischen Gesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts, eine wieder sehr aktuelle Stimmung auf.
Polanski konzentriert sich in seiner Verfilmung des Romans „Intrige“ von Robert Harris besonders auf die Prozesse, die in dieser Angelegenheit geführt wurden und die sich mehr und mehr zur Staatskrise weiteten. Seine Hauptfigur ist dabei weniger Dreyfus, gespielt von Louis Garrel, sondern der Offizier Marie-Georges Picquart, Dreyfus’ Vorgesetzter, der sich, trotz seines persönlichen Antisemitismus, zum Verteidiger des Verurteilten macht, sobald er entdeckt, dass jemand anderes der Verräter sein muss.
Jean Dujardin gibt diesen mit spitzem Schnauzbart geschmückten Soldaten mit steifer Würde, als Verfechter von Wahrheit und Gerechtigkeit aus Pflichtgefühl seinem eigenen Berufsstand gegenüber. Picquarts Unbeirrbarkeit nutzt Polanski als Motor für die passgenau inszenierte Zuspitzung, zu der er sein streng an den Fakten entlang erzähltes Justizdrama führt. Klassische Mittel, höchst effektiv eingesetzt.
Die Jury-Präsidentin Lucrecia Martel hatte sich schon im Vorfeld zu Polanski geäußert mit den Worten, dass sie „den Menschen nicht von seiner Kunst“ trenne. Dass der wegen Vergewaltigung verurteilte Polanski seinerseits die eigene Geschichte von diesem Film trennt, ist tatsächlich unwahrscheinlich. Vielleicht sollte man ihm dennoch nicht den Gefallen tun und es ihm gleichtun. Sein Film steht so deutlich stärker da.
Das unkontrolliert meckernde Lachen
Zweite Überraschung: der Wettbewerbsfilm „Ema“ des Chilenen Pablo Larraín. Eine Geschichte über eine Tänzerin gleichen Namens, die ihren Adoptivsohn zurückgegeben hat, nachdem sie und ihr Mann Gastón sich als Eltern überfordert gezeigt hatten. Zwei Personen, die nicht unbedingt sympathisch erscheinen, narzisstisch in sich eingefaltet alle beide.
Doch wie die Titeldarstellerin Mariana Di Girolamo und Gael García Bernal als Gastón diese beiden zugleich ätzenden wie anhaltend faszinierenden Figuren ausgestalten, die allein mit ihren Blicken verzaubern können, wie die Kamera eine unerschöpfliche Vielfalt an Farben aus der Stadtkulisse Valparaísos schöpft und wie sich die Handlung in verwirrender, doch nie selbstverliebter Weise auf ihre so nicht erwartete Auflösung im Zickzackkurs hinbewegt, ist von Anfang bis Ende begeisternd. Dazu ein wunderbar zwischen melancholisch-diffus, bedrohlich und ekstatisch befreit gearbeiteter elektronischer Soundtrack des chilenisch-amerikanischen Musikers Nicolas Jaar. Der beste Films des Wettbewerbs so weit.
Dritte Überraschung: Joaquin Phoenix als Comic-Superschurke „Joker“, Batmans Gegenspieler. Dass man von ihm eine besondere und stark körperliche Darbietung des bösen Clowns mit dem sehr breiten Lächeln erwarten durfte, war sehr wahrscheinlich. Dass er seine Aufgabe dann aber so überragend erledigen sollte, war ein weiterer Höhepunkt des Festivals bisher.
Von seinem anfallartigen, unkontrolliert meckernden Lachen bis zu grandios entrückten Tanzeinlagen inkarniert Joaquin Phoenix die Entwicklung des fragilen Underdogs Arthur Fleck hin zu seiner Rolle als Joker psychologisch gründlich und abgründig. Von der massiven Filmmusik der isländischen Komponistin Hildur Guðnadóttir zudem würdig unterstrichen.
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