Filmfestspiele in Venedig: Stimmen und Schuld
Lidokino 10: Das Filmfestival war weit politischer als sonst. Auch durch den Gaza-Film „Voice of Hind Rajab“ der Regisseurin Kaouther Ben Hania.
Wird Venedig dieses Jahr zu Berlin? Unter den großen drei internationalen Filmfestivals von Cannes, Venedig und Berlin gilt Letzteres als das politischste. Venedig zeigt meistens mehr Ambitionen, ein Programm mit vielen Oscar-Anwärtern zu präsentieren. Politische Fragen stehen da im Hintergrund.
Die 82. Mostra internazionale d’arte cinematografica versprach aber schon im Vorfeld stärker von Politik bestimmt zu werden als sonst. In einem offenen Brief der Organisation „Venice4Palestine“, der von rund 2.000 Personen aus der Filmbranche unterzeichnet wurde, war das Festival vorab aufgefordert worden, eine propalästinensische Haltung einzunehmen.
Zudem wurde dem Festival nahegelegt, die Schauspieler Gal Gadot und Gerard Butler wegen ihrer Unterstützung Israels wieder auszuladen. Der israelische Star Gal Gadot sagte darauf ab. In der Pressekonferenz zum Auftakt war der Jurypräsident, der amerikanische Regisseur Alexander Payne, nach seiner Meinung zum Krieg in Gaza gefragt worden. Worauf er sich „unvorbereitet“ zeigte.
Und während der Filmfestspiele gab es auf dem Lido eine Demonstration in der Nähe des Festivalgeländes mit Tausenden von Teilnehmern, die gegen den israelischen Militäreinsatz im Gazastreifen protestierten.
Eine Fünfjährige sitzt fest
Am Mittwoch dann hatte der Spielfilm „The Voice of Hind Rajab“ von Kaouther ben Hania im Wettbewerb Premiere. Die tunesische Regisseurin verwendet darin die Originalaufnahmen eines Notrufs des fünfjährigen palästinensischen Mädchens Hind Rajab, der am 29. Januar 2024 bei der Palästinensischen Rothalbmondgesellschaft in Ramallah einging.
Über mehrere Stunden sprach sie von Gaza-Stadt aus aus einem Auto, das von den israelischen Streitkräften beschossen wurde, mit den Mitarbeitern der Hilfsorganisation und bat diese immer wieder, sie zu retten, bevor sie starb.
Kaouther Ben Hania zeigt im Film die Telefonzentrale, in der Schauspieler die Mitarbeiter verkörpern, die stets aufs Neue dem Mädchen Mut machen, während sie versuchen, einen Rettungswagen zu schicken. Nach und nach erfahren sie, dass Hind Rajab mit mehreren getöteten Verwandten im Auto festsitzt.
Die Angst des Mädchens
Ob man die Stimme eines getöteten Kindes in einem Spielfilm verwenden sollte, ist eine der Fragen, die sich Ben Hania stellen lassen muss. Ebenso erweist sich ihre Fiktionalisierung der Arbeit der Telefonzentrale als heikel. Die Darsteller überbieten sich im Betroffensein, ringen um Beherrschung, beginnen zu weinen, während sie das Mädchen in ihrer Angst begleiten.
Allein sie tun dies ja gar nicht, sie waren überhaupt nicht da, als Hind Rajab in Todesangst schwebte, sie spielen lediglich mit ihrer Stimme. Durch die theatralische Darstellung gerät der Film damit mehr zum Drama über die heftige Arbeit der Helfer.
Wirkliche Figuren schafft Ben Hania nicht, einzig der Koordinator der Rettung, Mahdi (Amer Hlehel), hat tragische Züge, da er streng nach Protokoll vorgehen muss. So erklärt er einem Kollegen, warum er nicht einfach einen Krankenwagen losschicken kann. Zunächst muss er eine palästinensische Behörde kontaktieren, die darauf mit einer israelischen Behörde verhandelt. Allein Letztere spricht direkt mit dem Militär. Wenn er diesen Weg nicht einhalte und der Krankenwagen nicht exakt die genehmigte Route fahre, riskiere er, dass der Wagen beschossen werde und das Militär ihm die Schuld dafür gebe.
Ergreifend verschlossen
Ben Hania hat jedoch nicht allein einen Film über ein grausames Schicksal gedreht, das akustisch dokumentiert ist, sie hat auch Botschaften darin untergebracht, die über eine Kritik an der Lage in Gaza hinausgehen. Etwa dass sich Mahdi von einem Kollegen für sein scheinbar übertrieben bürokratisches Vorgehen vorhalten lassen muss: „Wegen Leuten wie dir sind wir unter Besatzung.“ Die Kritik zeigt sich gegenüber solcher kaum verborgenen Israel-Kritik großzügig und feiert den Film. Man spricht von Chancen auf den Goldenen Löwen.
Ein Wettbewerbsfilm wie Leonardo Di Costanzos „Elisa“, der, gleichfalls nach einem wahren Fall, von einer Frau erzählt, die ihre Schwester ermordet hat und im Gefängnis versucht, ihre Tat zu begreifen und mit dieser zu leben, mag da klein wirken. Er hat mit Barbara Ronchi dafür eine ergreifend verschlossene Hauptdarstellerin.
Möge der beste Film gewinnen.
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