Filmfestival in Cannes: Das Filmarchiv

Die Modernisierung der Stadt Schanghai und die Armut der Provinz Santa Fe: Der Chinese Jia Zhangke und die Argentinier Ivan Fund und Santiago Loza mischen auf.

Das Team von "Los Labios". Bild: dpa

Unter den gegenwärtig in China arbeitenden Regisseuren ist Jia Zhangke wohl derjenige, der am hartnäckigsten darauf hinwirkt, dass das Land, in dem sich so vieles so schnell ändert, seine Geschichte im Blick behält. In "Sanxia Haoren" ("Still Life", 2006) zum Beispiel hat er sich in Fengjie umgeschaut, einer Stadt, die wegen des Baus des Drei-Schluchten-Staudamms heute unter dem Wasserspiegel liegt.

Sein jüngster Film, "Shang Hai Zhuan Qi" (der englische Titel lautet "I Wish I Knew"), ein Beitrag zur Reihe "Un certain regard", porträtiert die Stadt Schanghai beziehungsweise 18 Menschen, die dort leben oder gelebt haben. Die dokumentarischen Sequenzen mischen sich mit fiktiven, da der Regisseur die Schauspielerin Tao Zhao durch die sich ändernde Stadt streifen lässt, eine schweigsame Figur mit ausdruckslosem Gesicht, ein bisschen zu kunstgewerblich in Szene gesetzt.

Doch was die porträtierten Menschen - unter ihnen eine Modellarbeiterin, ein Rennfahrer, ein Trader, zwei Schauspielerinnen und der taiwanesische Regisseur Hou Hsiao-Hsien - erzählen, ist so interessant, dass man die leeren Augen und das kunstvoll durchnässte T-Shirt Tao Zhaos vergisst.

Die einzelnen Biografien spiegeln die Umwälzungen wider, die China im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert durchlebt hat. Der Krieg gegen Japan, der Triumph der Kommunistischen Partei, die Kulturrevolution, die Migrationsbewegungen, die staatliche Kontrolle der Individuen, die Öffnung der Märkte - all dies schlägt sich nieder in der Vita der Menschen, so dass sich der Film nach und nach zu einem Archiv entwickelt, das an Liao Yiwus Buch "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser" erinnert und das dem Individuum eben jenen Respekt zollt, den ihm Bürokraten und Politiker verwehren.

Jia Zhangke flicht zudem zahlreiche Ausschnitte aus existierenden Filmen ein, etwa aus Michelangelo Antonionis 1972 entstandener Dokumentation "Chung Kuo Cina". Ein chinesischer Filmtechniker berichtet von den Dreharbeiten in Schanghai. Antonioni habe das alte, rückständige, nicht das moderne China filmen wollen, obwohl die Chinesen im Filmteam ihn immer wieder auf Neubauten und neue Infrastruktur aufmerksam gemacht hätten. Zwei Jahre nach dem Dreh wurde der Techniker verhaftet, da Antonionis Film als antichinesisch eingestuft wurde. Er musste öffentlich Selbstkritik üben. Bis heute hat er "Chung Kuo Cina" nicht gesehen.

Auch die Argentinier Ivan Fund und Santiago Loza mischen Dokumentarisches und Fiktives. In "Los labios" ("Die Lippen"), ihrem Beitrag zu "Un certain regard", schicken die beiden Regisseure, 1971 respektive 1984 geboren, ihre drei Protagonistinnen in die Provinz Santa Fe. Die drei Frauen sind Ärztinnen und Sozialarbeiterinnen. Ziel ihres Aufenthaltes in der Provinz ist es, sich einen Überblick über die Lebensbedingungen der Bevölkerung zu verschaffen.

Der Kniff an "Los labios" ist, dass die Menschen, mit denen sie es zu tun bekommen, keine fiktiven Figuren sind, sondern Darsteller ihrer selbst. Die Gesundheitschecks, die Beratungsgespräche, die Impfungen, sie alle tragen sich in einem Zwischenbereich aus filmischer Erzählung und filmischem Dokument zu. Zum Vorschein kommt dabei eine desolate Lage: Unterernährung ersten und zweiten Grades, Risikoschwangerschaften, Alkoholismus, Arbeitslosigkeit, lausige Unterkünfte, kein Trinkwasser.

Der Film registriert die Armut nüchtern, anstatt uns mit ihr schockieren zu wollen. Er betrachtet sie als Teil eines Alltags, ohne sie deshalb als naturgegeben hinzunehmen. Je länger er dauert, umso mehr geschieht den fiktiven Figuren, was man in der Anthropologie mit "going native" bezeichnet: Sie integrieren sich in das Leben der Provinzbewohner. "Los labios" ist eine kluge Antwort auf die Frage, wie man Lebensumstände, die einem fremd sind, auf die Leinwand bringt, ohne dabei zum Voyeur zu werden.

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