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Filmfestival Mannheim-Heidelberg onlineDer offene Blick der Heldin

Das Filmfestival Mannheim-Heidelberg zeigt online Filme der französischen Post-Nouvelle-Vague. Die sind so persönlich wie subjektiv.

Gegen das Kleinbürgertum: Marie (Bernadette Lafont) in „La fiancée du pirate“ Foto: Lobster Films

Die Bettszene in „Außer Atem“ (1959), Schauplatz ihr karg möbliertes Zimmer irgendwo in Paris. Sie zögert, mit ihm zu schlafen. Darauf spricht er über den Tod, und sie zitiert William Faulk­ner: „Zwischen Trauer und dem Nichts, würde ich mich für die Trauer entscheiden.“ Er sei für das Nichts, alles andere sei ein Kompromiss. Danach verschwinden die beiden unter der ­Bettdecke.

Das Filmfestival

Bis zum 23. 11. ist die Retro­spektive des Filmfestivals Mannheim-Heidelberg zu sehen unter https://www.iffmh.de

Jean-Luc Godards Regiedebüt ist ein wahrhaftiges Spiel, Jean-Paul Belmondo und Jean Seberg spielen im vollen Bewusstsein ihrer Rollen den Gangster und die Femme fatale, spielen Gefühle und Liebe. 15 Jahre später liegt Seberg allein im Bett. Als sie aufwacht, wird ihr Körper von Weinkrämpfen geschüttelt: Auch Philippe Garrels Film „Les hautes solitudes – Einsame Höhen“ (1974) ist in Schwarz-Weiß fotografiert, doch anders als bei Godard handelt es sich um grobkörnige, manchmal sehr unscharfe Bilder.

Der Film ist eine Aneinanderreihung intimer Großaufnahmen von Frauen. Mal sieht man ihr Gesicht im Profil, mal blicken sie direkt ins Objektiv. Manchmal sprechen sie, aber man hört sie nicht, der Film hat keinen Ton.

Die Bilder haben nichts Spielerisches

Neben Jean Seberg ist u. a. die Sängerin Nico zu sehen. Diese Bilder haben nichts Spielerisches, sie werden von keinem Narrativ zusammengehalten. Die Frauen stellen sich dem Blick der Kamera, es scheint, als würden sie ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Seberg lacht, posiert vor der Kamera, flirtet mit ihr, dann wieder legt sich ein Schatten über ihr Gesicht.

In Reinform begegnet man hier Godards Idee von Kino: Man addiert zwei Bilder, und das dritte entsteht im Kopf der Be­trach­ter*innen. Bei Garrel setzt sich das jeweils dritte Bild aus der Gegenwärtigkeit emo­tionaler Zustände – Trauer, Angst, Freude, Melancholie – zusammen, die sich verstärken, überlagern und manchmal auch einander widersprechen. Manchmal meint man auch, das Nichts hinter einem Lächeln zu spüren.

Philippe Garrel gilt als Schlüsselfigur des Post-Nouvelle-Vage-Kinos, dem die diesjährige Retrospektive des Filmfestivals Mannheim-Heidelberg gewidmet ist. Wie von seinen Vorgängern gefordert, sagt Garrel mit der Kamera „Ich“ und treibt deren Autorentheorie mit seinen hemmungslos persönlichen und schonungslos subjektiven Filmen in den Exzess. Sein Film führt aufs Schönste das Konzept der Retrospektive vor Augen: das ästhetische Spannungsverhältnis zwischen der Nouvelle Vague und ihren Nachfolger*innen zu verdeutlichen.

Bruch mit dem traditionellen Geschlechterbild

„Mon cœur est rouge – Mein Herz ist rot“ (1976) ist der zweite Film der Modedesignerin Michèle Rosier, regis­triert werden die Suchbewegungen von Frauen, die sich nicht länger mit dem traditionellen Geschlechterbild arrangieren wollen. Auch diese Regisseurin möchte wie die Nouvelle Vague mit dem Kino das Leben in seiner Lebendigkeit und Zufälligkeit entdecken und erfassen. Hierfür übernimmt der Film die Lässigkeit und den offenen Blick der Heldin, seine Dramaturgie ist genauso unkonventionell wie ihre Reaktionen.

Clara arbeitet für eine Kosmetikfirma, befragt Frauen über ihr Schminkverhalten und trifft auf die unterschiedlichsten Einstellungen zu Ehe, Familie, Partnerschaft. Paris ist in diesem Film grau, die Stadt bietet keine romantische Perspektive, doch man spürt, dass Um- und Aufbruchsgefühle in der Luft liegen.

Etwas Neues findet auch in Claras Badewanne statt, wenn sie sich ausmalt, den nackten Körper ihres Freundes von den Zehenspitzen bis zum Scheitel zu filmen, und zwar in einer Länge von 90 Minuten. Bei einer ausgelassenen Veranstaltung der Pariser Frauenbewegung hängen große Fotografien von Künstlerinnen an den Wänden, auch die junge Agnès Varda ist dabei.

Unordnung in die herrschende Ordnung bringen

Um eine besondere Form der Befreiung geht es in „La fiancée du pirate – Die Verlobte des Piraten“ (1969) der kürzlich verstorbenen Regisseurin und Schriftstellerin Nelly Kaplan. Darin verhext eine junge Frau ihre Umgebung und einen ganzen Film, bringt Unordnung in die herrschende Ordnung.

Als ihre Mutter stirbt, die im Dorf von allen als Außenseiterin diskriminiert wurde, wird Marie (Bernadette Lafont) von ihrer Umgebung als erotisches Freiwild gejagt. Doch setzt sie dem machistisch geprägten Kleinbürgertum ihre eigene fantastische Machtentfaltung entgegen.

„Damit sie sauber sind“, sagt Juliet Berto als Politaktivistin in Jean-Luc Godards Film „La Chinoise“ (1967) auf die Frage, weshalb sie Teller abwasche. Und fügt noch hinzu: „Frankreich im Jahr 1967, das ist wie ein schmutziger Teller.“ Vierzehn Jahre später, in „Neige – Schnee“ (1981), steht Berto vor und hinter der Kamera (Co-Regie Jean Henri Roger) und spült Gläser hinter der Theke einer Bar. Sie ist immer noch eine Aktivistin, jedoch ohne theoretischen Überbau. Ihre Figur will den Mord an einem jungen schwarzen Drogendealer rächen.

„Neige“ spielt im Norden von Paris, meist bei Nacht. Seine Figuren sind Transfrauen und -männer, sind afrikanische Migranten und weiße Frauen und Männer, die zwischen Bars und Boulevards in den Tag hineinleben. Es ist ein Film, der Genre spielt, mit Verfolgungsjagden durch das Billigkaufhaus Tati, afro­franzö­si­sche ­Musikgeschäfte und arabische Läden. Es scheint, als sei er auf der Straße gefunden worden, wo er en passant die Stimmung und Lebensgefühle eines Pariser Quartiers einfängt.

Es ist eine Freude, dabei zuzusehen, wie die Regisseur*innen der Retrospektive in den Dialog mit den Filmen der Nouvelle-Vague-Regisseure treten. Gerade weil sie wissen, dass jedes Bild ein Vor-Bild hat, können sie sich in die Gegenwart stürzen.

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