Filmemacherin Renate Sami erzählt: "Alle waren antiautoritär"
Die Filmemacherin Renate Sami, geboren 1935 in Berlin, über Dorothea Ridder, ihr "68" und ihre Verhaftung, Westberlin in den 70er Jahren und den Tod von Holger Meins.
"Der Satz von Karl Marx, dass das Recht ein Überbau der sozialen Gegebenheiten sei, erweist seine Richtigkeit besonders in Zeiten verschärfter Klassengegensätze."
Sagte 1932 Hans Litten, Strafverteidiger und Anwalt der Roten Hilfe*
*(Rote Hilfe in der Weimarer Zeit nach den "Märzunruhen" von 1920 gegründet als linke Rechts- und Gefangenenhilfsorganisation. Sie wurde 1936 von der Gestapo aufgelöst. Einstein, Liebermann, Kollwitz, Piscator, Heinrich Mann, Tucholsky, Ossietzky und andere unterstützen die Rote Hilfe materiell und ideell. Aufgeschlossene Anwälte übernahmen Mandate, darunter viele jüdische Anwälte, wie auch der legendäre Strafverteidiger Hans Litten, der Adolf Hitler 1931 in den Zeugenstand rief und in die Enge trieb. Er wurde 1933 verhaftet und trotz internationaler Proteste in verschiedenen Nazifolterkellern und Konzentrationslagern gequält, bis er sich 1938 im KZ Dachau erhängte.)
Renate Sami, 1935 in Berlin geboren, ist Filmemacherin. Sie lebt in Berlin und ist seit Anfang der Siebzigerjahre mit Dorothea Ridder befreundet.
"Also Dorothea war - wie wir alle - sehr interessiert an den Erfahrungen anderer Menschen, auch aus der Dritten Welt. Und sie war sehr interessiert an Theorien über den Kapitalismus natürlich und zum globalen Prozess, zum Krieg in Vietnam. Man wollte einfach eine Antwort haben auf die Ungerechtigkeit, man wünschte sich, dass jemand eine Theorie hätte, die alles erklären könnte. Man hat viel gelesen. Und natürlich war das auch vermittelt durch Personen, Bücher und viele Bekannte!
Das war für mich "68"! Dorothea hatte ja eine sehr gefühlsbetonte Seite, auch im Politischen. Sie suchte eigentlich immer nach den Zusammenhängen, leidenschaftlich, sie wollte irgendwie den Sinn erfassen von dem Ganzen. Sie wollte verändern und Lösungen finden. Einiges hat sie ja ausprobiert. Und dann wurde sie konsequenterweise Medizinerin. Das war ihr Weg! Und sozusagen diese Umwege, die gehörten dazu. Auch ihr Interesse für den Bhagwan hat für sie als Medizinerin Sinn gemacht. Ich glaube, in Indien damals, in Poona, da hat sie auch Akupunktur gemacht. Sie hat zwar Schulmedizin gemacht als Ärztin, sie hatte aber eine ganz große Offenheit gegenüber anderen Heilmethoden - was zu dieser Zeit damals noch überhaupt nicht so üblich war bei den Ärzten. Das wurde vehement abgelehnt, besonders auch außereuropäische Heilkunst, indische Medizin, chinesische Medizin usw. Heute ist das fast schon eine Selbstverständlichkeit. Aber da war sie anders. Sie war offen. Das war auch so ein sehr schöner Zug an ihr.
Meine Schwägerin wird ihr ewig dankbar sein. Sie hat sie damals behandelt, zusammen mit diesem Arzt aus Alexandria, Nessim, der mit ihr seine Praxis geteilt hatte. Das ist ewig her, Anfang der 80er-Jahre war das, glaube ich. Meine Schwägerin hatte Magenkrebs. Sie ist wieder gesund geworden. Also ich kann das zwar nicht beurteilen, ob Dorothea ihr das Leben gerettet hat. Aber sie hat ihr Wege gezeigt, andere Wege, andere Möglichkeiten, verschiedene Therapien.
Fragt mich nicht, was das im Einzelnen war, ich bin da ja immer eher so ein bisschen skeptisch. Das Auffallende an Dorothea war ihre große Freude an der Nähe zu den Patienten, fast zärtlich, kann man sagen, war sie, sehr zugewandt. Zu allen. Mann und Frau, Alt und Jung. Sie hatte so eine Unmittelbarkeit, und sie hatte Geduld. Ich glaube, ein Kranker fühlte sich angehört, verstanden, getröstet und auch geborgen bei ihr. Sie hat andere Menschen viel berührt. Und gern berührt, ohne Scheu, auch gegenüber den ersten Aidskranken damals. Also sie konnte aber auch sehr streng sein, wenn es nötig war."
Sie lacht. "Aber meistens war es wohl nicht nötig. Und weil sie eben dieses für sie typische Wesen hatte, erinnere ich mich noch sehr deutlich daran, wie sie sich verändert hat. Es war damals vor ihrem Schlaganfall, ihre Freunde stellten fest, dass sie immer weniger zugänglich war, und ich erinnere mich, dass ich mit Mathias - und auch mit Antje, glaube ich - mich unterhalten habe darüber. Dass wir gesagt haben, man muss jetzt eigentlich mal mit Dorothea sprechen darüber, dass sie so vollkommen gestresst wirkt. Dass wir uns Sorgen machen, dass sie gar nicht mehr zuhören kann und auch nicht will. Sie hatte oft so eine schroffe und abweisende Haltung, war kurz angebunden, also man traute sich fast gar nicht.
Irgendwie dachte man, das kann kein gutes Ende nehmen. Und dann bekam sie den Schlaganfall. Da war sie erst fünfundfünfzig. Es hatte wahrscheinlich auch viel mit Ärger in der Praxis zu tun, mit den ganzen Umstellungen im Gesundheitswesen, das wurde ja immer mehr eingeschränkt." (Die "Gesundheitsreform" der 80er- und 90er-Jahre brachte immer mehr Rationalisierungs- und Bürokratisierungszwänge, wie immer, wenn lebensferne Beamte Vorschriften erarbeiten. Die Leistungen pro Patient sollten immer mehr reduziert werden, das Entsolidarisierungssystem, bei dem wir heute angekommen sind, wurde damals unerbittlich auf den Weg gebracht; G. G.). "Irgendwie hatte Dorothea kaum noch Zeit, auch nicht mehr zum Reden mit den Patienten. Und das war ja ihr Schönstes, neben der Behandlung. Also Dorothea ist vielleicht für vieles geeignet, nur nicht für Vorschriften in ihrer ärztlichen Arbeit.
Wie ich sie kennengelernt habe? Sie hatte damals gehört, dass ich im Gefängnis war und sie interessierte sich dafür, wollte sich ein bisschen mit mir unterhalten darüber, auch über die RAF natürlich. Das war ja gar nicht ungewöhnlich, denn die Trennung zwischen der Linken und der RAF, die gab es damals noch gar nicht. Im Gegenteil, alle redeten noch miteinander, kannten sich. Als ich aus dem Gefängnis kam, hatte ich auch eine Unterhaltung mit Philip Sauber. Also das war ganz normal, dass man miteinander darüber sprach." (Philip, bzw. Werner Sauber, wurde 1947 als Kind wohlhabender Eltern in der Schweiz geboren. Er kam 1967 nach Berlin, kurz nach dem 2. Juni, um an der neugegründeten Film- und Fernsehakademie DFFB sein Studium fortzusetzen. Dort machte er einen vielgelobten Kurzfilm, "Der einsame Wanderer". Er wurde 1968 wegen einer Rektoratsbesetzung relegiert, zusammen unter anderem mit Harun Farocki, der inzwischen ein international bekannter Dokumentarfilmmacher ist und immer noch präzise politische soziokulturelle Analysen mit filmischen Mitteln macht. Relegiert wurde auch Holger Meins, der unter anderem einen eindrucksvollen kommentarlosen Kurzfilm über das alltägliche Überleben des "Stadtstreichers" Oskar Langenfeld an der DFFB gemacht hatte, sich 1970 der späteren RAF anschloss, 1972 zusammen mit Baader und Raspe verhaftet wurde und 1974 nach fast zwei Monaten Hungerstreik in der JVA Witten/Eiffel in der Isolationshaft starb. Philip Sauber schloss sich der Bewegung 2. Juni an, ging nach Köln, arbeitete unter falschem Namen in den Klöckner-Humboldt-Deutz-Werken, nachts an der Stanze im Akkord. Im Jahr 1974 freundete er sich mit Karl Heinz Roth an, über dessen Buch "Die andere Arbeiterbewegung. Die Entwicklung der kapitalistischen Repression von 1880 bis zur Gegenwart." Im Jahr 1975 saß Philip Sauber mit Karl Heinz Roth und Roland Otto auf einem Kölner Parkplatz im Auto, sie gerieten in eine Polizeikontrolle, Philip Sauber versuchte zu fliehen, es kam zu einer Schießerei, bei der er und ein junger Polizist getötet wurden. Karl Heinz Roth wurde schwer verletzt inhaftiert und als Terrorist wegen Mordes angeklagt, obgleich er nicht geschossen hatte. Im Jahr 1976 Prozess und Freilassung mangels Beweisen. Roth wurde zu einem der bedeutendsten kritischen Sozialhistoriker, er ist im Vorstand der Bremer Stiftung für Sozialforschung des 20. Jahrhunderts. Seine Arbeitsschwerpunkte waren und sind unter anderem Geschichte der Arbeiterbewegung, Geschichte einzelner Konzerne, Medizin- und Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus, der Zustand der Welt. Die Bremer Stiftung ging hervor aus dem 1983 gegründeten Verein zur Erforschung der Nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik. Hierher passt der immer wieder falsch zitierte Satz von Horkheimer: "Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.", "Zeitschrift für Sozialforschung", 8, 115. Ich entschuldige mich, aber oft ist es so, dass, wenn man an einem Grashalm zieht, gleich das ganze Wurzelwerk zu Tage kommt. Deshalb die etwas umfangreiche Anmerkung; G. G.)
Renate Sami erzählt weiter: "Und dann wurde Dorothea festgenommen, auch bei einer Polizeikontrolle im Auto. Also ich kannte sie ja damals nur von diesem einen Mal miteinander reden. Kennengelernt haben wir uns erst später. Ich war, das habe ich noch nicht erwähnt, damals nach meiner Haft in der Roten Hilfe. Wir haben Knastarbeit gemacht, die politischen Gefangenen unterstützt und besucht, und ich kannte natürlich auch Henning Spangenberg, der im Sozialistischen Anwaltskollektiv war und dann auch Dorothea mit verteidigt hat. Und da war auch noch der Filmemacher Mathias Weiss. Wir beschlossen, sozusagen als eine Art Knasthilfe für Dorothea, zusammenzuziehen in eine gemeinsame Wohnung, wenn sie wieder rauskommt. Damit sie dann gleich auch eine Bleibe hat und Freunde um sich.
Das muss dann so 73 gewesen sein, als sie aus dem Knast rauskam. Wir hatten eine riesige Altbauwohnung in der Wilmersdorfer Straße. Als wir da dann wieder rausmussten und keine große Wohnung mehr finden konnten, haben wir uns aufgeteilt. Die Männer zogen zusammen und ich zog zusammen mit Dorothea in eine Dreizimmerwohnung am Bundesplatz, das war die Eschen-Wohnung - er war ja 69 Mitbegründer des Sozialistischen Anwaltskollektivs, und er hatte Dorothea, glaube ich, auch im Knast besucht. Das war sehr schön, diese Solidarität, und dass jeder jeden kannte. Wie lange Dorothea am Bundesplatz wohnte, das weiß ich jetzt gar nicht mehr. Irgendwann war sie in der Türkei. Eine Weile stand ihr Zimmer leer, und dann ist Povl eingezogen, also Peter Oelze von Lobenthal. Und er hat ihr später dann auch viel geholfen, beim Streichen und Einrichten ihrer Praxis. Vorher hat sie eine Weile in Westdeutschland Praxisvertretungen gemacht. Dort habe ich sie auch besucht.
Aber es war nicht so, dass Dorothea und ich ungestört lebten am Bundesplatz. Eines Nachts, wir haben, glaube ich, schon geschlafen, da wurde an unsere Tür geschlagen. Polizei, aufmachen! Dann haben wir gesagt, wir möchten den Durchsuchungsbefehl. Die haben gesagt: Nicht nötig. Gefahr im Verzug. Öffnen sie die Tür! Wir sagten, wir machen nicht auf, wir rufen jetzt unseren Anwalt an. Und da ging ein wahnsinnig aggressiver Überfall los. Sie haben die Tür mit Äxten zerschmettert und kamen reingestürmt in unsere Wohnung. Wir dachten, jetzt bringen sie uns um. Es wurde natürlich nichts erklärt, sie haben unsere ganzen Sachen rausgerissen, alles umgedreht und umgeschmissen, das dauerte so über eine Stunde, dann gingen sie wieder und haben eine Menge Ordner und Papiere usw. mitgenommen. Als sie weg waren, sah es aus wie auf dem Schlachtfeld und wir konnten unsere Wohnungstür nicht mehr benutzen. So was kennt man ja heute aus den Fernsehkrimis, da ist das gar nichts Besonderes mehr, das gehört dazu, zu den Fernsehserien. Das ist ganz normal, zumindest will man das den Leuten suggerieren."
Wir bitten Renate Sami, uns auch noch die Geschichte ihrer eigenen Inhaftierung zu erzählen und auch ein bisschen über ihr "68". Sie möchte eigentlich gar nicht so gerne von sich erzählen, sie ist ein eher zurückhaltender Mensch. Dann lässt sie sich aber doch von mir erweichen.
"Es war an sich ganz harmlos. Eine Demonstration vor dem Amerika-Haus. Es sind auch Eier geworfen worden, Steine und angeblich auch Molotowcocktails, aber eben nicht von uns. Der Verdacht, dabei gewesen zu sein, genügte bereits. Die Vorgeschichte für diese Protestveranstaltung sozusagen war der Vietnamkrieg. Die Empörung darüber, dass Amerika sich militärisch nicht aus diesem Kriegsschauplatz zurückzieht, diesen Krieg nicht beenden will, die dauerte ja schon jahrelang. Nicht nur in Deutschland natürlich. Und dann hatte damals der Präsident Nixon - ohne die Zustimmung des Kongresses - plötzlich auch noch Truppen nach Kambodscha einmarschieren lassen. Überfallartig, das war ein neutrales Land. Das war der Gipfel! Statt den Vietnamkrieg zu beenden, überfällt er jetzt auch noch Kambodscha." (Damals wurde in der "Zeit" der Ausspruch eines kommandieren Militärs zitiert: "Herrliches Panzergelände hier!" Auf diesem "herrlichen Panzergelände" - auf das bereits 1969 geheimgehaltene Flächenbombardements niedergingen, um die Nachschubwege der Vietcong zu zerstören - wurden eine halbe Million kambodschanischer Zivilisten umgebracht. Sozusagen ein Kollateralschaden. Vor Pol Pot; G. G.) "Es gab in den USA überall Empörung und riesige Protestdemonstrationen, Vorlesungsstreiks, und dagegen wurde sehr brutal eingeschritten. In Ohio, auf dem Campus der Universität von Kent, ist die Nationalgarde aufmarschiert und hat angefangen zu schießen. Vier Studenten wurden erschossen. Und in dieser Nacht, vor fast genau 38 Jahren im Mai 1970, ging also die Kunde herum in allen Wohngemeinschaften hier. Man versammelte sich und wollte eben dagegen protestieren. Es kamen spontan ganz viele Leute. Und in dieser Nacht hat dann die Polizei vollkommen wahllos Leute überprüft, die irgendwie in dieses Raster passten: Automarke, Frisur, Aussehen. Eben alle, die so unterwegs waren, Autofahrer, Mopeds, Motorradfahrer.
Wir kamen Stunden später in eine Kontrolle, weit ab vom Amerika-Haus, in der Hauptstraße in Schöneberg. wir waren mit einem Jungen, Karl Heinz Wierzejewsky, im Auto unterwegs. Uli Fischer und ich. Uli Fischer war Asta-Vorsitzender an der FU. Wir waren schon mal bei einer anderen Gelegenheit aufgefallen, waren erkennungsdienstlich behandelt worden - diese Erfahrung teilten wir mit sehr vielen Leuten, das ging sehr schnell damals. Also da war man sozusagen schon mal verdächtig. Und dazu kam, wir wohnten mit anderen zusammen in einer Wohnung, die unter Beobachtung stand. Das konnte man sich allerdings erst später wirklich zusammenreimen. Sie war in der Grunewaldstraße 88, im Haus gab es seit 68 viele Projekte und auch Wohngemeinschaften. Da wohnten auch Leute, die Filme machten, Holger Meins hatte mal da gewohnt, Harun Farocki wohnte da mit seiner Frau Ursula Lefkes und den Zwillingen, oder auch Philip Sauber wohnte mit seiner Freundin Ulrike Edschmid und ihrem Kind dort, im Haus gab es eine Zeit lang einen Kinderladen, in dem er auch mitgearbeitet hat.
lso es war sehr lebhaft und gesellig, viele gute, talentierte Leute. Die Grunewald 88 war so eine Art Hotspot. Dort wurde auch die 883 gemacht für eine Weile (Agit 883, libertär-anarchistische Zeitung 1969-1972, mit vielen Zeichnungen, Comics und Montagen, die ersten Ausgaben der taz hatten noch etwas von dieser Ästhetik; G. G.). Und es gingen sehr viele Leute in diesem Haus aus und ein, auch Mahler, Baader, Ensslin, alle. Nicht, dass sie da wohnten, aber sie kamen da hin. In der Zeit gab es ja die RAF in dem späteren Sinne noch gar nicht. Aber das Haus und bestimmte Wohnungen wurden natürlich observiert.
Das passte eben alles so ins Muster und sie haben uns deshalb auch festgehalten und inhaftiert. Mir wurde dann auch vorgeworfen, am Amerika-Haus menschengefährdende Brandstiftung begangen zu haben. Da war aber gar nichts dran. Das hat aber nichts geändert. Ein Jahr haben sie uns festgehalten, in "Untersuchungshaft". Man hätte uns natürlich auch auf freiem Fuß lassen können, bis zur Klärung der Vorwürfe, aber wir blieben eingesperrt, wegen "leicht löslicher Wohnverhältnisse". Das bedeutete, unsere Lebens- und Wohnverhältnisse wurden als absolut provisorisch betrachtet, eben so, dass wir sie jederzeit hätten aufgeben und die Flucht ergreifen können. Ob wir das auch gewollt hätten, das stand gar nicht zur Debatte. Eine ganze Menge Leute lebten damals so, aber das war eben immer noch relativ abseits der Norm. Ich war zuerst in der Kantstraße inhaftiert, dann ein halbes Jahr im Gefängnis Moabit, und ein weiteres halbes Jahr im Frauengefängnis Lehrter Straße. Immer in Einzelhaft. Die ersten Tage sind die schlimmsten. Man hält es nicht für möglich und will nur raus! Dann gewöhnt man sich daran. Seltsam eigentlich. Ich habe gelesen, gearbeitet, habe übersetzt. Also ich sehe das nicht so als Verlust an, dieses Jahr." Sie sagt das ungewöhnlich energisch.
"Im Jahr 1971, zur Haftprüfung, wurde ich freigelassen. Als ich mich wieder ein bisschen zurechtgefunden hatte, ging ich zur Roten Hilfe." (Wurde 1970 in Westberlin gegründet nach dem Vorbild der Roten Hilfe in der Weimarer Zeit, es folgen weitere Gründungen in Westdeutschland; G. G.) "Das fand ich dann einfach wichtig, für die Gefangenen was zu tun. Und das waren ja nicht nur solche aus dem Umfeld, um die wir uns gekümmert haben. Viele saßen im Knast und wollten Kontakt. Einige habe ich auch besucht. Also ich bin nicht so gerne wieder hingegangen in den Knast, aber dann hat es mir nicht mehr so viel ausgemacht. In der Roten Hilfe war ich, bis ich anfing mit dem Filmen. Ich habe dann nur noch so kleine Sachen gemacht, Rote-Hilfe-Zeitungen verteilen und das wars. Na ja, und ein Jahr später war dann der Prozess. Verteidigt hat uns das Anwaltskollektiv: Ströbele, Eschen, Schily … das war unglaublich wichtig, dass es dieses Anwaltskollektiv gab. Nicht nur politisch beziehungsweise für den juristischen Beistand, auch menschlich. Also Eschen hat mich immer besucht im Knast, Spangenberg auch. Und neulich habe ich mal die Prozessakten nach langer Zeit wieder gelesen und ich habe festgestellt, dass der Otto Schily einen ganz tollen Schriftsatz verfasst hat, wo er zum Beispiel Nixon als Zeugen fordert, die ganze amerikanische Regierung - ja, in unserem Prozess. Es ist wirklich ein sehr guter Schriftsatz. Wir sind dann zu einem Jahr verurteilt worden. Sind in die Revision gegangen und erst da gabs den Freispruch.
m November 1974 starb dann Holger. Er war unglaublich abgemagert, vollkommen ausgezehrt. Diese Bilder gingen ja damals um die Welt. Ich weiß gar nicht, wer die eigentlich gemacht hatte. Und zur Beerdigung kamen dann mehr als 5.000 Leute zum Trauerzug, und da sagte Dutschke dann ja auch am Grab diesen berühmten Satz: ,Holger, der Kampf geht weiter.'"
Sie zögert einen Moment und sagt dann. "Er musste sich nicht zu Tode hungern. Er könnte heute leben, könnte frei sein. Aber es war ein solcher Gruppendruck, der da ausgeübt wurde. Dem Manfred Grashof, der seinen Hungerstreik mal abgebrochen hatte, dem haben sie ganz schreckliche Briefe geschrieben. Er hat dann auch wieder angefangen. Also das war ein unheimlicher Gruppendruck. Und Holger hat das alles sehr ernst genommen. Die Idee dahinter. Und ihr wisst ja inzwischen, dass Baader natürlich Hühnchen gegessen hat. Das wissen wir jetzt alle, nicht?
amals jedenfalls, nach Holgers Tod, bildete sich eine Gruppe von Leuten aus der Film- und Fernsehakademie, die einen Film über Holger Meins machen wollten. Ganz viele Leute, ja, auch Esther Dayan - nach der du mich gefragt hast - war dabei. Sie war Dozentin, Schnitt machte sie. Ich kannte sie ein bisschen. Und dabei war auch Helene Schwarz, eine tolle Frau, auch Gerd Conrad, Ulrike Edschmid und andere. Und ich war auch dabei, obwohl ich nicht an der DFFB war. Es wurde dann aber nichts draus, weil kein Geld da war.
Ich bin trotzdem drangeblieben und habe mit Constanze Lindemann zusammen, die jetzt in der Gewerkschaft ist, das Projekt immer ein bisschen weiter verfolgt. Kennt ihr eigentlich den Film von Holger, er heißt ,Langenfeld' nach dem Obdachlosen, um den es geht? Ein schöner Film. Er hat in so zwölf kleinen Stationen, kann man sagen, Eindrücke dieses Mannes festgehalten. Einmal auf der Straße, dann mit seiner Schwester, mit einem Freund und in einem Obdachlosenasyl. Immer so kleine kurze Szenen. Ich kenne den Film gut, Na ja, jedenfalls, ich hatte Haftentschädigung beantragt nach dem Freispruch. Es dauerte ewig, aber dann bekam ich das Geld. Ich wollte es natürlich nicht behalten und habe davon dann den Film über Holger gemacht. Ich bin zu all diesen Leuten gefahren, die mit ihm studiert hatten, die seine Freunde waren, und habe Interviews gemacht. Mit Ulrike Edschmid, Gerd Conrad, Hartmut Bitomsky, Harun Farocki, Helke Sander, Günther Peter Strascheck und Clara Schmitt. Und dazwischengeschnitten sozusagen sind dann eben immer Bilder und Archivmaterial." ("Es stirb allerdings ein jeder, Frage ist nur wie, und wie du gelebt hast", 1917, 16 mm, 60 Min. Der Titel ist ein Zitat von Holger Meins; G. G.) Und so habe ich das Filmen dann 1975 zu meinem Beruf gemacht, oder es wurde zu meinem Beruf. Vorher habe ich Französisch, Englisch und Deutsch unterrichtet und nebenbei noch an Übersetzungen gearbeitet.
Ich habe unlängst beim Kelleraufräumen einen alten Artikel gefunden, den ich mal geschrieben habe für eine Züricher Arbeiterzeitung. Schon vor ewigen Zeiten, in den 60er-Jahren damals. Pinkus, sagt euch der Name was? Na, dann wisst ihr ja, von wem ich rede." (Theo Pinkus, 1909-1991, Schweizer Marxist, Antiquar, Verleger, Publizist. Er und seine Frau Amelie wurden beide 1943 aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen, besaßen und führten eine der umfangreichsten Sammlungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, das "Gedächtnis der Arbeiterbewegung". Pinkus war ein genialer Multiplikator und Vermittler zwischen Personen und Projekten, war mit Lukács, Bloch, Marcuse, Frisch befreundet, kannte eine Menge bekannter und unbekannter Leute, war immer neugierig. Er und Amelie verschenkten 1971/72 ihre gesamte Bibliothek, das Antiquariat mit allen Beständen, samt Haus in der Züricher Froschaugasse, an die Stiftung Studienbibliothek zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Das Antiquariat hat man in eine Genossenschaft umgewandelt. Das Ganze wurde zu einem gut organisierten Selbstverwaltungsprojekt; G. G.)
"Ich habe Pinkus damals im Zug kennengelernt. Ich bin nach Frankfurt gefahren und von dort aus wollte ich weiter nach Amerika fliegen und etwas Material sammeln über den schwarzen Dichter und Schriftsteller LeRoi Jones, über seine Festnahme, über den alltäglichen Rassismus und die Situation der Schwarzen. LeRoi Jones, später nannte er sich Amiri Baraka, war einer von denen, die sich dagegen aufgelehnt haben. In Amerika ist es ja ein Bürgerrecht, Waffen zu besitzen, aber für die Schwarzen hat das nicht gegolten. Er war einer der ersten Schwarzen, die sich bewaffneten, und irgendwie hat er auch eine bewaffnete Bürgerwehr schaffen wollen in den Ghettos der Schwarzen, für den Selbstschutz. Und da wurde er eben festgenommen. Ich habe dort in Zeitungen recherchiert und habe dann einen Artikel geschrieben. Und das war sozusagen auch ein Ausgangspunkt meiner, ich sage mal, Politisierung. Es fing an mit der Unterdrückung der Schwarzen, mit denen, die nicht nach Vietnam wollten. So hat es für mich angefangen.
a und damals, auf dem Weg nach Amerika, da saß mir zufällig Pinkus gegenüber. Ich habe Marcuse gelesen und er hat mich angesprochen. Wir haben dann während der ganzen Fahrt miteinander gesprochen. Ich wusste damals gar nicht, wer Pinkus ist. Ich habe ihm ganz unbefangen erzählt, was ich vorhabe, und dass es meine erste Reise nach New York sei. Und er hat vorgeschlagen, dass ich ihm einen Artikel schreibe. Das habe ich dann auch gemacht. Später war ich auch mal in Zürich bei ihm. Er hat mein Leben, ohne es zu wissen, ziemlich beeinflusst damals. Ich habe durch ihn den Republikanischen Club kennengelernt, und er hat mir dann auch den Kontakt zu Klaus Wagenbach vermittelt. Für den Wagenbach Verlag habe ich Übersetzungen gemacht. Und auch für den Melzer Verlag habe ich übersetzt. "Wo ist Vietnam?", das war so ein dickes Buch, 89 amerikanische Dichter gegen den Krieg in Vietnam. Das habe ich damals mit Horst Tomayer zusammen gemacht. Wir waren ein tolles Gespann, ich kann ja gut Englisch, aber er, er kann gut Deutsch! Der ist ein vorzüglicher Dichter. Ein Gedicht, das ist ja immer so wie ein Hof um die Worte, und ich konnte ihm immer genau sagen, was im Englischen der Hof des Wortes ist. Es war ein Vergnügen mit ihm, weil ihm eine Menge einfällt.
ieles in meinem Leben kam durch Zufall. Es war ein Zufall, dass ich Pinkus im Zug getroffen habe und mit ihm ins Gespräch kam. Und auch dabei, dass ich zum Filmen gekommen bin, spielte der Zufall eine Riesenrolle. Es war so, als ich noch in der Roten Hilfe war, da kam eines Tages ein Filmemacher aus München, Wieland Fiekler, und der und andere wollten einen Film machen über den Hungerstreik der RAF. Damals lebte Holger Meins noch. Und sie suchten jemand, der da mitmacht, der sich ein bisschen auskennt und auch etwas Kontakt hat zu den Anwälten. Das war dann ich. Er hat mir so eine Super-8-Kamera gegeben, damit haben wir dann so ein bisschen gefilmt, auch bei Demonstrationen. Damals hatte ich zum ersten Mal eine Kamera in der Hand. Und ich habe angefangen darüber nachzudenken, was Film überhaupt ist. Und auch das Technische war natürlich ungeheuer wichtig. Ich habe geschnitten, zusammen mit einer Frau aus der Gruppe, und so habe ich das Handwerk nach und nach gelernt, ohne es studiert zu haben - ich war ja nie auf der Film- und Fernsehakademie. Andere haben es mir beigebracht.
Auch bei meinem ersten Film spielte wieder der Zufall eine Rolle. Ich traf eines Tages diesen Wieland Fiekler unverhofft auf der Straße wieder und habe ihm von diesem Vorhaben ,Holger Meins' erzählt. Und er sagte: ,Du, ich hab da noch Material, du kannst es haben. Der hatte an der Münchner Filmhochschule studiert und sich für seinen Abschlussfilm schon Material gekauft. Dann wollte er aber mit Film nichts mehr zu tun haben, hat aufgehört. Der ästhetische Weg war ja damals umstritten. Er wollte mehr so einen aktionistischen Weg gehen, er war mit Katharina de Fries befreundet, jedenfalls, er schenkte mir das Material und so hatte ich schon mal ein Paar Rollen Film. Und zusammen mit der Haftentschädigung wurde das Projekt möglich. Gezeigt wurde der Film dann auf Teach-ins in Berlin, Frankfurt, München, Hamburg, auch in kleinen Kinos, Werkstattkinos. Er ist viel gezeigt worden und ist inzwischen ziemlich zerkratzt. Deshalb habe ich jetzt auch Geld beantragt für neue Kopien, denn ich will ihn mitnehmen. Ich mache im Herbst so eine kleine Tour, in Amerika. Verschiedene Universitäten machen Veranstaltungen, es geht mehr so um Experimentalfilme, aber der von Harvard wollte diesen Film unbedingt haben. Ich hoffe, dass ich das Geld bekomme für die Kopie."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Einigung zwischen Union und SPD
Vorgezogene Neuwahlen am 23. Februar
Debatte um Termin für Bundestagswahl
Vor März wird das nichts
Wirbel um Berichterstattung in Amsterdam
Medien zeigen falsches Hetz-Video
Energiepläne der Union
Der die Windräder abbauen will
Bewertung aus dem Bundesinnenministerium
Auch Hamas-Dreiecke nun verboten
Berliner Kurator verurteilt
Er verbreitete Hass-Collagen nach dem 7. Oktober