Fetzen Brutalität, Zärtlichkeit – alles ist intensiv in dem Roman „Das Mädchen ein halbfertiges Ding“ von Eimear McBride: Dunkle Geschichten
von Carola Ebeling
Es ist eine dieser Geschichten aus der Wundertüte der Bücherwelt: 2004 schreibt die damals 27-jährige Eimear McBride in nur sechs Monaten ihren Roman über ein Mädchen, das im Irland der 80er- und 90er Jahre aufwächst. McBride bietet das Manuskript jahrelang erfolglos vielen Verlagen an. Die loben ihren Mut zur sprachlichen und inhaltlichen Grenzüberschreitung, aber für den Buchmarkt sei das leider gar nichts, schlicht unverkäuflich. 2013 schließlich traut sich der kleine Verlag Galley Beggar Press „A Girl Is a Half-formed Thing“ zu publizieren: Das Debüt wird von der Kritik gefeiert, räumt Preise ab – und wird gekauft, gelesen! Die Rechte gehen in zwanzig Länder.
Das ist erstaunlich. Denn „Das Mädchen ein halbfertiges Ding“ ist eine Herausforderung. „Für dich. Du wirst. Du wählst ihren Namen. In den Nähten ihrer Haut trägt sie dann dein Wort. Ich Mammy? Ja du.“ Das sind die ersten Zeilen: verrätselt, vage, zugleich dicht. Vielleicht entscheidet sich schon hier, wer die Herausforderung annehmen will, wen diese Sätze ins Buch hineinziehen und wen sie wegstoßen. Das angesprochene Du ist der ältere Bruder des Mädchens, der Erzählerin, er gibt ihr ihren Namen, den wir aber nie erfahren. Und im Nachhinein wird deutlich, wie viel hier schon über die intensive Verbindung der beiden ausgesagt ist.
McBride erzählt eine dunkle Geschichte. Der Bruder überlebt als Kleinkind einen Hirntumor, doch die Möglichkeit einer Neuerkrankung schwebt als Damoklesschwert über der Familie. Der Vater haut ab, die Mutter flüchtet in eine maßlose religiöse Strenge. Die Kinder sind sich alles, gemeinsam sind sie den Schlägen und Höllendrohungen der Mutter ausgesetzt. Die Sünde lauert überall. Als die 13-Jährige das erst Mal eine Ahnung von Lust spürt, nutzt der so zugewandte Onkel das aus. Dieser Missbrauch offenbart seine ganze zerstörerische Kraft erst nach und nach. Die Erzählerin flieht später in die Großstadt. Entfernt sich vom Bruder. Findet vermeintliche Macht in kalten sexuellen Begegnungen, betäubt sich darin, begehrt auf, bestraft sich zugleich.
Wie sich hier (behauptete und empfundene) Liebe, Gewalt und Religion durchdringen ist für das Mädchen unentwirrbar, verzerrt alle Gefühle und befrachtet es mit einem alles erdrückenden Schuldgefühl, drängt es in eine maßlose Selbstverachtung: „Denke wenn ich tot wäre wenn ich tot wäre dann wäre ich das beste beste Ding […] Soll Wasser das Ding wegnehmen. Leib wegnehmen.“ Das Mädchen begehrt aber auch auf, es will ja eigentlich am Leben sein! Doch seine Vitalität hält dem Schmerz nicht stand.
McBride lässt eine beeindruckende Komplexität und Tiefe in der Verzahnung der vermeintlich bekannten Themen aufscheinen. Es ist in hohem Maße ihre Sprache, die dazu beiträgt. Eine Sprache, die die Empfindungen ihrer Figuren ausdrückt, bevor sie sich als klare Gedanken formulieren ließen; die strauchelt, auseinanderbricht, jede Grammatik wegfegt. Das führt einerseits zu einer starken Unmittelbarkeit der Situationen, in die man zugleich mit der stockenden Sprache hineinstolpert – wer spricht, wer handelt, ist nicht immer sofort zu erkennen.
So setzen sich die Bilder im Kopf eben nicht aus überschaubaren Satzeinheiten zusammen, sondern viel tastender, manchmal von Wort zu Wort. „Er. Schmerzt. Irgendwo hinter meiner engen Brust meinen strengen Zähnen meiner engen Lunge meinem engen Hirn knirscht mein Blut es weiß wohin steht mein Herz still lässt es vorbei. Ihn. Lässt. Und ich gebe ihm. So viel Raum zum Füllen. So einen großen weißen leeren Raum“: eine sexuelle Begegnung mit dem Onkel, da ist sie 20 Jahre alt.
Es gibt in diesem Roman Schilderungen sexueller Brutalität, der sich die Erzählerin aussetzt, in denen die Sprache in Wortfetzen, Laute zerrissen wird. Das ist schwer auszuhalten, weil es so intensiv ist. Und es gibt eine ganz andere Tonlage, zart, zerbrechlich, ebenfalls schwer auszuhalten, weil auch diese Zärtlichkeit so intensiv ist: die existenzielle verbannte Liebe zum Bruder – eine Verbannung, die einleuchtet, nicht erklärt wird –, die wieder fühlbar wird, als die tödliche Krankheit zurückkehrt. Die Schwester begleitet ihn beim Sterben, versucht, ihn vor dem religiösen Eifer der Mutter zu schützen. Der Abschied, ihre Trauer sind herzzerreißend.
Es ist eine schmerzliche und so eindringliche Lektüre. Und liest man einige Passagen laut, wird man von der eigentümlichen Musikalität dieser zugleich überbordenden und zerfallenden Sprache überrascht. Hochachtung auch der Übersetzerin Miriam Mandelkow.
Eimear McBride: „Das Mädchen ein halbfertiges Ding“. Schöffling & Co., Frankfurt a. M. 2015, 254 S., 21,95 Euro
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