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Festnahme des Istanbuler BürgermeistersDie Straße entscheidet

Kommentar von Ali Çelikkan

İmamoğlu galt als aussichtsreicher Herausforderer von Präsident Erdoğan. Dann wurde er festgenommen. Warum Wahlen die Demokratie nicht retten können.

Trotz Demonstrationsverbots auf der Straße: eine Frau in Istanbul; auf ihrem Plakat steht: „Die Türkei wird gewinnen“ Foto: Francisco Seco/ap/dpa

D ie Türkei hat seit den Gezi-Protesten im Jahr 2013 viele Wendepunkte erlebt. Die Verhaftung von Abgeordneten und Journalisten nach dem Putschversuch von 2016, die Verfassungsänderung von 2017, die das Präsidialsystem einführte, die Parlamentswahlen 2018, die Kommunalwahlen 2019 und die Ernennung von Zwangsverwaltern für Gemeinden in den östlichen Provinzen.

Diese politischen Entwicklungen wurden von zahlreichen Korruptionsskandalen, unzähligen Verfassungsverletzungen, einer andauernden Wirtschaftskrise, Femiziden, Kindesmissbrauchsfällen, Grubenunglücken, von Umweltzerstörung und einem verheerenden Erdbeben begleitet. Doch eine zweite Gezi-Bewegung hat es nicht gegeben. Die Republikanische Volkspartei (CHP), die größte Oppositionspartei, verwies auf Wahlen als einzigen Weg für Veränderung.

Bei den Parlamentswahlen 2023 sollte die Opposition zusammenkommen und Präsident Recep Tayyip Erdoğan besiegen. Trotz der langjährigen Praxis der Regierung, in kurdischen Gemeinden Zwangsverwalter einzusetzen, erschien es aus westlicher Perspektive immer noch realistisch, in der Türkei Wahlen zu gewinnen.

Doch 2023 gewann Erdoğan wieder. Zuletzt wollte die Opposition vorgezogene Wahlen erwirken und Ekrem İmam­oğlu nominieren – den Bürgermeister, der 2019 nach 25 Jahren AKP-Herr­schaft Istanbul eroberte. Doch İmam­oğlu wurde am frühen Mittwochmorgen festgenommen. Ihm werden Terrorismus und Korruption vorgeworfen.

Schmerzhafte Lektion, die Kurden schon lange kennen

Der Westen der Türkei hat nun die schmerzhafte Lektion gelernt, die kurdische Wähler schon lange kennen: Die türkische Justiz hat sich in ein politisches Machtinstrument verwandelt und kann jede demokratische Wahl verhindern und gewählte Vertreter aus dem Amt entfernen.

Sollte nun ein Zwangsverwalter für die Stadt Istanbul eingesetzt werden, würde das bedeuten, dass Wahlen in der Türkei de facto abgeschafft sind: ein letzter Höhepunkt auf dem Weg in die Autokratie. Trotzdem will die CHP am Sonntag im ganzen Land Wahlurnen aufstellen, um in einer rein symbolischen Aktion über İmamoğlus Kandidatur bei den nächsten Wahlen abzustimmen.

Offensichtlich liegt es nicht nur an der Opposition, dass es kein zweites Gezi gibt. Der Staat hat drastische Maßnahmen ergriffen, um sicherzustellen, dass es nicht wieder zu ähnlichen Protesten kommt. Die Gezi-Proteste wurden als Putschversuch gebrandmarkt und Protestierende wurden zu absurd harten Strafen verurteilt. Das Recht auf demokratische Versammlungen in der Türkei wurde praktisch abgeschafft.

Die Frauenbewegung ist die einzige, die noch Massen mobilisieren kann. Mit den neuen Internet- und Desinformationsgesetzen können schon Social-Media-Beiträge dazu führen, dass Menschen in den ohnehin überfüllten Gefängnissen landen. Derzeit sitzen knapp 380.000 Menschen in türkischen Gefängnissen, was die Kapazitätsgrenzen weit überschreitet.

Wo ist der Protest in Europa?

Trotz alledem durchbrachen in den letzten Tagen Studierende in Istanbul und Ankara Polizeisperren. Am Mittwochabend versammelten sich trotz Demonstrationsverbots Zehntausende vor dem Istanbuler Saraçhane-Rathaus, um İmamoğlu zu unterstützen. Diese Proteste können wachsen. Am Ende könnte es entscheidend sein, ob das Regime in der Lage ist, die Kontrolle über die Stadtverwaltung von Istanbul zu übernehmen oder nicht.

Viele Menschen in Deutschland fragen sich gerade, warum nicht mehr Menschen in der Türkei auf die Straße gehen. Aber was ist die Ausrede dafür, dass sich die türkische Opposition in Deutschland nicht wirklich auf der Straße bemerkbar macht?

Am Mittwochnachmittag versammelten sich ein paar Dutzend Menschen in Berlin am Kottbusser Tor. Über einen Lautsprecher, der immer wieder ausfiel, forderten sie die Freilassung von Ekrem İmamoğlu. Einige Teilnehmer konnten ihre Überraschung darüber, wie wenige Menschen gekommen waren, nicht verbergen.

Wenige Stunden später fand eine weitere Demonstration am Brandenburger Tor statt, wo sich nur einige Hundert Menschen versammelten. Es gab ein paar Reden von Politikern, Slogans, die Erdoğans Rücktritt forderten. Die Gruppe zog eine kleine Runde über den Platz mit türkischen Flaggen. Aber da geht noch mehr.

Sollten diese Proteste wachsen, könnte das Druck auf Deutschland und andere europäische Staaten ausüben, Erdoğans Regierung zur Rechenschaft zu ziehen. Und nur durch eine geeinte Bewegung kann die Demokratie in der Türkei eine letzte Chance haben. Denn das Hoffen auf die nächsten Wahlen, das sehen wir nun, ist vergeblich.

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2 Kommentare

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  • Für mich stellt sich die Frage ob die EU die offensichtlichen Bestrebungen zur Zementierung der Autokratie in der Türkei zugunsten einer strategischen Partnerschaft opfert.



    In meiner Wahrnehmung ist die Türkei unmittelbarer Kristallisationspunkt aller Konflikte von zentralem europäischen Interesse:



    1. Die in der Sache richtige aber scheinheilig bis widerwärtig geführte Migrationsdebatte



    2. Die Stärkung der EU-NATO zur Abschreckung ggü Russland (*sekundär, ob wir das gutheißen, es wird mMn passieren)



    3. Rüstungsprogramme und deren Gelingen (*s.o.): hängt davon ab, ob EU diverse nationale Rüstungsprogramme in relativ kurzer Zeit (5 J) aufeinander abgestimmt werden oder nicht. TR hat mit Bayraktar ein verhältnismäßig günstiges Drohnensystem, das die (EU-)NATO nicht hat.



    4. USA ist als größter Natopartner mindestens für vier Jahre "verhindert" (lies unzurechnungsfähig)



    5. Friedrich Merz & die Dobrindts, Support: Die Umfaller

  • Aber ob der Druck von der Straße wirklich erfolgreich sein kann?



    Ich hoffe es, glaube es aber nicht. Nicht mehr, seit im Iran die Massenproteste blutig niedergeschlagen wurden.



    Ich fände es noch interessant, ob es möglicherweise einen Zusammenhang mit dem Öcalan-Angebot bzw. den Verhandlungen gibt. Die kurdische Guerilla hat wenigstens kontinuierlich Widerstand geleistet. Zumindest bis jetzt.