Festival in Mecklenburg-Vorpommern: Plumpsklo und dazu kalte Duschen
Das Immergut Festival bei Neustrelitz gehört zu den kleineren Events. Nach drei Tagen stellt sich dann das Gefühl ein: Stimmt, wir kennen uns doch.
Jedes Jahr erlebe ich es von Neuem: Ich habe ein Ticket zu einem Festival gekauft, aber jetzt, wo es so weit ist, habe ich irgendwie nicht so richtig Lust. Will ich wirklich meine Wohnung gegen ein zu kleines, zu warmes, zu chaotisches Zelt eintauschen? Sage ich schon wieder Nein zum Badezimmer mit fließend Wasser, einem Klo mit Spülung und einer warmen Dusche – um stattdessen drei Tage ein Plumpsklo zu benutzen und – wenn ich Glück habe – eine kalte Dusche? Und jedes Jahr: Na ja, jetzt hast du schon dafür bezahlt, also gut, los geht’s.
Und noch kein einziges Mal habe ich die Entscheidung bereut.
Dieses Jahr geht es für mich zur Mecklenburgischen Seenplatte auf das Immergut Festival bei Neustrelitz. Es ist ein vergleichbar kleines Festival, es kommen jedes Jahr nur etwa 5.000 Besucher*innen hierher (zum Vergleich: zu Rock im Park, einem der größten Festivals in Deutschland, kommen jedes Jahr rund 250.000 Besucher*innen). Aber das macht es umso entspannter, weniger ist ja bekanntlich mehr.
Außerdem zieht mich das Festival an, weil es Haltung hat. Das Festival will mit Absicht nicht riesig sein, es soll der Region ein spannendes kulturelles Erlebnis bieten, so nachhaltig wie möglich, so günstig wie möglich.
Schon die Anfahrt zum Immergut bringt mich in Stimmung. Mit der Regionalbahn ab Berlin nur knapp zwei Stunden bis nach Neustrelitz, langsam steigen immer mehr junge Menschen mit Festivallaune ein. Ab Neustrelitz-Hauptbahnhof fahren wir mit der süßen roten Pendelbahn mit nur zwei Waggons zum Festivalgelände am Bürgersee. Die Bahn ist bei der Hinfahrt rappelvoll, in der Luft hängt eine Mischung aus Schweiß, Alkohol, Aufregung und Vorfreude. Am kleinen Bahnhof Bürgersee angekommen, strömen die Menschen hinaus in die Festivalluft. Das Motto des Immergut dieses Jahr lautet: Alles bleibt anders.
Die Pausetaste ist gedrückt
Bei einem Festival – egal wie groß oder klein – benehmen sich die Menschen anders. Es ist wie wenn man Pause drückt auf das „echte“ Leben, die üblichen gesellschaftlichen Strukturen fallen weg, alle haben die gleiche Stellung, die gleiche Rolle, das gleiche Ziel. Man unterhält sich mit den Zeltnachbarn, tauscht Geschichten und Getränke aus, alle sind automatisch per Du, hier ist keiner fremd. „Wie viele sind’s bei dir?“, fragt mich ein Nachbar. Er meint: Wie oft war ich schon beim Immergut Festival dabei. Es ist mein erstes Mal. „Super, dann viel Spaß! Ich bin schon seit 2007 dabei, also wenn du was brauchst, frag einfach. Und vielleicht sieht man sich ja dann nächstes Jahr wieder.“
Anfahrt Ab Berlin Gesundbrunnen fahren stündlich Regionalbahnen bis nach Neustrelitz. Wer aus weiterer Entfernung anreist, kann auch mit dem IC oder ICE fahren, beide halten in regelmäßigen Abständen am Hauptbahnhof von Neustrelitz. Ein Fernbus aus Berlin, Greifswald und Leipzig hält auch zweimal am Tag in der Stadt. Vor Ort fährt ein Pendelzug dann zum Festivalgelände – einen Fahrplan findet man kurz vor Beginn des Festivals auf der Festival-Webseite: www.immergutrocken.de.
Wann Das Immergut Festival findet jedes Jahr am letzten Maiwochenende statt.
Preise Die Tickets sind vergleichsweise günstig: Im Vorverkauf können Karten ab 55 Euro für die gesamte Festivalzeit ergattert werden, für Spontanbesucher*innen kosten sie 75 Euro. Wer nicht das ganze Wochenende zur Verfügung hat, kann auch eine Tageskarte für 40 Euro an der Abendkasse bekommen.
Das Immergut ist vorrangig ein Indie-Festival. Die Acts – darunter Sophia Kennedy, Bilderbuch, Deerhunter – sind mir persönlich weniger bekannt, aber das ist bei einem Festival egal: Man ist schließlich auch hier, um neue Musik kennenzulernen.
Ich schlendere im Laufe des Abends zwischen den drei Bühnen hin und her, mal gehe ich zur Waldbühne, mal zur Zeltbühne, mal bleibe ich in der Mitte stehen, und schaue mir die Künstler*innen auf dem Birkenhain an. Um mich herum feiern die Menschen, alle sind gut gelaunt, wir lachen, tanzen, singen. „Kommste morgen mit uns an den See?“, fragt mich eine junge Frau irgendwann – sie ist etwas angetrunken, meinen Namen hat sie sich vermutlich nicht gemerkt, aber ich nehme es ihr nicht übel. Wir machen keine Uhrzeit, keinen Treffpunkt aus. Was soll es auch? Wir denken hier nicht wirklich an morgen, nur an das Hier und Jetzt.
Trotzdem hatte sie eine super Idee: Am Samstag ist fantastisches Wetter, und wenn man schon in der Mecklenburgischen Seenplatte ist, kann man das auch ausnutzen. Morgens gibt es noch kein Programm, und viele machen sich auf den Weg zum Bahnhof, um den Tag an einem der umliegenden Seen zu verbringen. Die kleine Pendelbahn macht extra „Badefahrten“ zum Weißen See. Es gibt aber auch mehrere andere Seen, zu denen man zum Beispiel mit dem Fahrrad oder dem Auto fahren kann.
Tatsächlich gehe ich am Ende doch nicht zum See, ich werde nämlich von der Wortbühne abgelenkt. Das ist ein kleines Podium vor dem Eingang zum Hauptfestivalgelände, wo täglich Diskussionsrunden zu unterschiedlichen Themen stattfinden. Als ich vorbeikomme spricht gerade die Bundestagsabgeordnete Simone Barrientos von der Linksfraktion, es geht um Geschlechtergerechtigkeit auf Festivalbühnen. „Es geht hier natürlich nicht darum, die Männer zu verscheuchen. Aber wir müssen kulturpolitisch auch mehr tun, dass mehr Künstlerinnen auch bei den Line-ups zu sehen sind.“
Es wird diskutiert über die Sinnhaftigkeit einer Frauenquote bei Festivals – zu oft seien die Headliner bei Festivals hauptsächlich Männer. „Wir brauchen vielleicht eine Quote, damit wir sie irgendwann nicht mehr brauchen“, sagt die Politikerin. Ich setze mich auf eine der Holzbänke vor dem Podium in die Sonne. Sie prallt runter, es ist wirklich sehr heiß heute. Ich bleibe und höre mir die Debatte an, es ist spannend und regt zum Nachdenken an. War ich schon bei einem Festival, bei dem genauso viele Frauen wie Männer auf den Bühnen waren? Schwer zu sagen.
Auch das gehört zum guten Festivalfeeling. Es ist nicht nur Spaß und Musik – wobei das natürlich eine wichtige Komponente ist. Es ist aber mehr als das. Das Gefühl, das man seine Leute gefunden hat. Andere Menschen, die nicht nur musikalisch so ticken wie man selbst, sondern auch gesellschaftlich, politisch auf einer Wellenlänge sind. Nach drei Tagen bildet sich hier in Neustrelitz eine Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft, eine Solidarität, eine intrinsische Freundschaft zwischen den Besucher*innen.
Wenn ich am Ende durch die kleine Zeltstadt schlendere und so in die Gesichter blicke, denke ich fast immer: Kennen wir uns nicht? Warst du nicht gestern auch bei Sophia Kennedy? Haben wir nicht gestern zusammen für Pommes angestanden? Und wer schon öfter dabei war, fragt: Warst du nicht letztes Jahr auch hier? Und ich staune, wie oft sich der andere umdreht und sagt: Stimmt, dich kenne ich doch.
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