Festival „Pop-Kultur“ in Berlin: Begeisterung und Investition
Die zweite Ausgabe des Berliner Festivals „Pop-Kultur“ fand in Neukölln statt. Von den geladenen Künstlerinnen gab es inspirierende Auftritte.
Von Freiheit und Demokratie singt Selda Bağcan. Alle strahlen, als die Stimme der türkischen Psych-Rock-Sängerin im Berliner Huxley’s ertönt. Das Publikum scheint vertraut mit ihrem mehrere Jahrzehnte umfassenden Werk, viele singen mit. Eine ungewöhnliche Konstellation – Selda Bağcan wird auf dem Berliner Festival „Pop-Kultur“, wo sie am Donnerstagabend viele neue Fans gewinnt, von der israelischen Band Boom Pam begleitet. Bağcan ist eine der Perlen der zweiten Festivalausgabe, wie schon die erste von der Popförderungsinstitution Musicboard veranstaltet.
Zur Eröffnung kam auch der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD), das lässt er sich nicht nehmen in der heißen Phase des Wahlkampfs um das Abgeordnetenhaus. Genau wie die Neuköllner Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey, die das Festival für seinen Beitrag zur wirtschaftsorientierten Stadtentwicklung lobt.
Nicht nur deshalb ist „Pop-Kultur“ ein Politikum. Rund 660.000 Euro öffentliche Gelder fließen dafür. Verglichen mit Etats anderer Kulturveranstaltungen eher Peanuts, doch hat man damit Möglichkeiten, die die Konkurrenz nicht hat. Und besondere Verantwortung. „Pop-Kultur“ muss Musikbegeisterte locken und Investoren.
Auch dank ihres Marketingkonzepts, das Neukölln in eine Reihe von Metropolen wie New York stellt, ist das der Schritt weg von der drögen Vorgängerveranstaltung „Berlin Music Week“. Leider ist die Ironie, die dieser Kommunikationsstrategie zugrunde liegt, zu nah an der Wirklichkeit: Neuköllns Pioniertage sind Geschichte. Auch wenn hier die kreative Szene brodelt, sich viele internationale KünstlerInnen niederlassen, kämpft das Viertel mit Verdrängung und der Stigmatisierung als Problembezirk.
„Pop-Kultur“ labe sich am coolen Ruf des Stadtteils, schimpfen einige. Das sei mitnichten so, kontert Musicboard-Chefin Katja Lucker, die Ortswahl sei keine Strategie: Auf der Suche nach geeigneten Räumen bietet der Ausgehkiez die beste Infrastruktur. Hier liegen große Locations wie das Huxley’s und der Heimathafen, genauso kleinere Spielstätten wie der Club Keller und das Café Prachtwerk in Laufweite.
Das modulare Programmangebot des Festivals bringt Fans dazu, sich mehr anzuschauen, als sie bereits kennen. So wird unter anderem der elektrifizierte Punk von Schwund aus Berlin mit afrofuturistischem HipHop von Sassy Black aus Seattle und kaleidoskopartigen Psych-Rock von Ezra Furman gebündelt.
Nachdem Hendrik Otremba, Sänger der Postpunk-Gruppe Messer, aus seinem Detektivroman vorliest, kann man Richard Hell vom New York der frühen Siebziger fabulieren hören. Auch das Schwesterntrio A-Wa, das in der Sprache seiner jemenitischen Großeltern singt und in Israel die Charts anführt, begeistert viele. Nach den melodiösen Klängen pustet der Riot-Grrrl-Lärm von Skinny Girl Diet die Ohren wieder frei. Mit dieser Lautstärke empfehlen sie sich für ihr in Kürze erscheinendes Debütalbum „Heavy Flow“.
Postpunk-Kessel Stuttgart
Danach treten Karies auf, eine Band aus dem Postpunk-Kessel Stuttgart, deren Sound ausgewogener wirkt, aber auch etwas in Lethargie erstarrt. Voller Energie hingegen sind die Auftritte des queeren US-Rappers Zebra Katz und der R&B-Künstlerin ABRA. Ihre Stimme klingt hervorragend, wird stellenweise aber vom Bass überrollt, der Sound ist viel zu leise. Trotzdem bringt sie als eine von wenigen KünstlerInnen den Raum zum Platzen, denn viele Veranstaltungen hätten mehr Zuschauer verdient gehabt.
Auch wenn die Konzerte nicht so exklusiv sind, wie das Festivalprogramm suggeriert, animiert „Pop-Kultur“ die Gäste zu mehr als nur zum Abspulen des gewohnten Programms: So führen Fatima Al Qadiri und Juliana Huxtable nicht nur einen inspirierenden Talk über die Synergie von Musik und Worten, sondern legen auch auf. Algiers aus Atlanta spielen experimentellen Noise-Rock und wirken als Dozierende im Nachwuchsprogramm, das sich – nach erfolgreicher Bewerbung und einer Teilnahmegebühr – an junge Menschen aus der Musikbranche richtet.
Mit Themen wie künstlerkontrollierten Strukturen und der Suche nach einem fairen Streaminganbieter, werden gleichzeitig auch aktuelle Themen der Kulturkritik diskutiert.
Gerade der inspirierende Eindruck der Künstlerinnen zeigt, dass hier die Hausaufgaben gemacht wurden: Was selbstverständlich sein sollte, wird eingelöst: Fast die Hälfte des Line-ups stellen Frauen. Es lohnt sich: ABRA, Selda, A-Wa und Skinny Girl Diet liefern die überzeugendsten Shows der diesjährigen Ausgabe von „Pop-Kultur“.
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