Festival „Babel Music“ in Marseille: Frankreich liegt im Rücken

Musikalische Kreolisierung, Sufilyrik und Songs über Hotels bietet das Globalpop-Festival „Babel Music“ im südfranzösischen Marseille.

Gwendolin Victorin und Raphaël Philibert von Dowdelin Freitagnacht beim Konzert in Marseille

Cool, calm, collective: Gwendolin Victorin und Raphaël Philibert von Dowdelin in Marseille Foto: Jean de Peña

Babel heißt auf Arabisch Tür. Der Name „Babel Music Xp“ für ein Festival, das während dreier Tage in Marseille Konzerte, Debatten und eine Musikmesse für Global Pop bietet, könnte besser nicht gewählt sein.

Traditionell ist die Hafenstadt im Süden Frankreichs ein Hub. Dreh- und Angelpunkt für Güter und Menschen von der anderen, der nordafrikanischen Seite des Mittelmeers, aber auch von weiter her, aus Westafrika, aus der Karibik, ja aus der ganzen Welt. „Babel“ war in den frühen zehner Jahren schon mal als Festival eingeführt und setzte der übermächtigen Konkurrenz Womex und Midem durch gewieften Charme und Einbettung in das innerstädtische Ambiente Vitalität entgegen. Seit 2016 lag das Festival aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten auf Eis, die Covidpandemie verlängerte die Zwangspause.

Der Festival-Relaunch fällt 2023 nun feierlich, aber nicht zu pompös aus. Die Konzerte in den „Docks du Sud“ sind gut gefüllt, allerdings fehlt das ganz junge Publikum. Festivalleiter Olivier Rey, früher Pressesprecher, ist im Gespräch mit der taz dennoch vorsichtig optimistisch. Musik entstehe im Herzen der Gesellschaft und müsse folglich auch dort stattfinden. Marseille erprobe nachbarschaftliche Strukturen seit Langem erfolgreich und lasse sich nicht auseinanderdividieren, auch nicht von der „Übermacht Paris“. „La vie ensemble“, zusammen leben, sei ein Motto.

Dunst der Kloake

Auf den Straßen der Hafenstadt tut sich allerdings eine grimmigere Kulisse auf. Vor den Tankstellen bilden sich lange Autoschlangen, Benzin ist knapp, weil die Raffinerien seit Wochen bestreikt werden. Müll türmt sich auf und müffelt vor sich hin, auch die Müllabfuhr bummelt aus Protest gegen die Rentenreform der französischen Regierung, und so gesellt sich zum salzig-fischigen Hafenstadtflair der säuerliche Dunst der Kloake.

Außer einer kokelnden Mülltonne war von Ausschreitungen allerdings nichts zu bemerken. Wenngleich immer wieder Demonstrationen den öffentlichen Nahverkehr lahmlegen, der in den Festivaltagen auch mal stundenweise bestreikt wird. Irgendwann fahren Busse, Trambahnen und die U-Bahn dann doch wieder.

Beim Festival selbst beschränkt sich der Protest auf symbolische Manifestationen, etwa, als der brasilianische Sänger und Gitarrist Lucas Santtana am Donnerstag gegen Mitternacht, mitten in seinem beschwingt-zugewandten, himmlisch-friedlichen Mitsing-Sambapop-Reigen plötzlich beide Schweinefinger zückt und verächtlich den Namen „Macrrrron“ ausspuckt, was das feixende Publikum dankbar aufnimmt, ohne dass der brasilianische Popstar weiter ausführt, was genau ihn zu dieser folkloristischen Einlage gebracht hat.

Mittelmeer als Perspektive

„Für uns in Marseille liegt Frankreich im Rücken, wir blicken hinaus aufs Mittelmeer, unsere Perspektive ist immer die Ferne“, betont Festivalleiter Olivier Rey. Rey sagt, das Land im Rücken sei in einer ernsten Krise. Er sei nicht grundsätzlich gegen eine andere Rentenpolitik, aber der Präsident habe die Reformen auf nicht sehr demokratischem Wege durchgeboxt.

Tagsüber sind Stände, kleinere Showcase-Konzerte, Filmvorführungen und Podiumsdiskussionen im Kulturzentrum „La Friche“ im migrantisch geprägten Viertel Belle de Mai unweit des Hauptbahnhofs Saint-Charles. Einst wurden an diesem Ort, einer 1990 stillgelegten Tabakfabrik, die französischen Zigarettenklassiker „Gauloises“ und „Gitanes“ hergestellt.

Seit 1992 ist „La Friche“ ein Hort der Kultur mit Theater- und Kinosälen, Ateliers, Probebühnen, eigenem Radiosender und sehr viel Platz, um sich auszuprobieren. Die Festivalaktivitäten beschränken die An­woh­ne­r:In­nen nicht, sie fahren Skateboard, spielen Fußball und üben Dancemoves auf einer mit elastischem Boden ausgelegten „Zone de Danse“.

Pass culture

Nun wird die Jugend auch aktiv ins Kulturleben mit dem „pass culture“ eingebunden, der nach französischem Vorbild auch in Deutschland eingeführt wird. Beim Infostand auf dem Festival sitzt Roseline Faliph und ist guter Dinge. Die junge Frau arbeitet für den öffentlichen Sektor als „lokale Entwicklerin“ in der Region Marseille. Der „pass culture“ wurde seit der Einführung 2021 rund 2,6 Millionen Mal als App runtergeladen. 15-Jährige steigen mit 20 Euro ein, 18-Jährige bekommen bis zu 300 Euro.

Der Pass wendet sich an Jugendliche und junge Erwachsene im Alter zwischen 15 und 20 Jahren. Die Zielgruppe bezahlt mit dem Geld Kulturgüter, Konzert- und Kinotickets genauso wie Graphic Novels oder Romane. Faliph erzählt, die Kulturbranche profitiere als Ganzes von der Idee.

Zu hoffen wäre, die Jugend schaut sich dank „pass culture“ auch den Dokfilm „Claude McKay 100 ans après“ von Matthieu Verdeil an, der beim Festival Premiere hat. Der jamaikanische Schriftsteller McKay (1889 – 1948) reiste 1923 erstmals nach Marseille, kam 1925/26 erneut und schrieb den funkensprühenden Roman „Banjo“ (1929), der den Beginn des Jazzzeitalters in Europa dokumentiert und eine Gruppe junger, in Marseille gestrandeter afroamerikanischer Matrosen dabei begleitet, wie sie in den Bistros am alten Hafen Jazz und Bluessongs spielen und sich mit Arbeiten in den Docks über Wasser halten.

Black Power von Claude McKay

Etwas später wurde McKay zur Harlem Renaissance gezählt, aber es ist dieser Roman, der die Traumata des Ersten Weltkrieges, beinharten Rassismus und Verelendung als Kern der Handlung angelegt hat, genau wie unbändigen Humanismus und Willen zur Verständigung, die auch den Anfang eines schwarzen literarischen Selbstbewusstseins markieren. McKay lässt seine Charaktere wie selbstverständlich Slang-Englisch sprechen. Auch Marseille ehrt seinen Vorkämpfer für den Multikulturalismus und hat 2015 ein Stück des „Quai du Port“ in „Passage Claude McKay“ umgetauft.

Mit dem Dokumentarfilm, für den Regisseur Verdeil alte Fotos, Archivaufnahmen und Sinfonie-der-Großstadt-Unruhe zwischen Talking-Head-Aussagen einbettet, aber auch den Jazz als Bildsprache benutzt, geht diese fällige Wiederentdeckung von Claude McKay in eine neue Phase. Anders als in Frankreich gibt es keine Übersetzungen von McKays Werken auf Deutsch!

Nach so viel großstädtischem Wimmelbild tut es dann gut, einen Ausflug ins Bukolische zu unternehmen. Der marokkanische Sufisänger Walid Ben Selim und die französische Harfenistin Marie-Marguerite Cano entführen das andächtig lauschende Publikum in weit zurückliegende Jahrhunderte und mystische Vorstellungen vom alten Orient. Ein bisschen Gegenwart muss schon sein: Ben Selim hat auf der Bühne neben sich einen kleinen Beistelltisch, auf dem vier Bücher liegen.

Marie-Marguerite Cano und Walid Ben Selim am Donnerstag in Marseille

Marie-Marguerite Cano und Walid Ben Selim am Donnerstag in Marseille Foto: Jean de Peña

Den Handapparat benutzt der Sänger immer wieder, um die in den Büchern abgedruckten Verse zu singen: Wir kriegen Sufilyrik aus dem 11. bis 15. Jahrhundert in Liedform, ein Lied kehliger und melismatischer gesungen als das andere. Ben Selim wirkt beim Singen ganz bei sich und bekommt Szenenapplaus. Als Cano ein kosmisches Harfensolo zupft, werden sogar einige Taschentücher gezückt.

Am Freitagnachmittag gibt es in „La Friche“ einen Showcase mit Künst­le­r:In­nen aus dem frankokanadischen Quebec. Uplifting fällt dabei das Konzert des Inuit-Singer-Songwriters Shauit aus, der aus dem Reservat Maliotenam kommt und in seinem Sound Country und Reggae ohne Reibungsverluste mit Inuit-Texten verbindet und dabei von Ferne wiederum an Zydeco-Musik aus Louisiana erinnert.

Den Abend eröffnet dann die Gitarristin Mayssa Jallad aus Beirut. Eine Entdeckung auch sie. Denn der Ambient-Dream-Pop, den sie zusammen mit einer zweiten Gitarristin und einem Drummer macht, züngelt nervös wie eine Flamme, die am Gasherd angeschaltet wird. Die Songs ufern oft ins Flächige aus, werden aber von Jallads gefühlvollem, nie aufdringlichem Gesang im Zaum gehalten und zugleich gepusht.

Für Fans von Seafeel, Savage Republic oder Labradford, aber auch für Fans von politischer Architekturkritik: Jallad, die in der Experimentalszene aktiv ist, hat ein Konzeptalbum über Beiruter Hotels veröffentlicht, die im libanesischen Bürgerkrieg besonders umkämpft waren.

Später am Abend geht es um die „Kreolisierung“ von Musik. Der Begriff klingt zumindest besser als „Crossover“ oder Vermischung. Und die vierköpfige Band Dowdelin aus Lyon behauptet diese Kreolisierung nicht nur, sondern zeigt auf der Bühne Präsenz mit beeindruckender Coolness: Vorne Percussionist und Sänger Raphaël Philibert (aus Guadeloupe) und die quirlige Sängerin Gwendolin Victorin (aus Martinique).

Kurze Ansagen, dazu schlafwandlerische Sicherheit im Groove und ein Faible für Melodien: Dowdelin spielen wollüstige Disco, leicht jenseits der Norm, aber mit punkigen Wumms. Ein Update jener Musik, die einst auf dem New Yorker Label ZE Records schon mal eine Kreolisierung von Pop vorantrieb.

Und das ist doch ein gutes Zeichen aus Frankreich, Streik hin oder her.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.