Ferien in Weißrussland: Niemand will von der Welt isoliert sein
Wie erkennt man als Tourist eine Diktatur? In keiner Sekunde fühlt man sich bedroht und doch ist es unheimlich, das Fehlen von Flyern, Plakaten, Graffiti.
I
Ein Witz: Ein Russe, ein Ukrainer und ein Weißrusse sollen gehängt werden. Der Ukrainer versteckt sich, der Russe wehrt sich, und der Weißrusse fragt: „Sollen wir den Strick selber mitbringen?“ Die Weißrussen werden nicht müde, sich so zu beschreiben: sanfte Menschen, die gelernt hätten, sich zu ducken, wenn wieder ein fremdes Heer durchs Land zog.
In Brest wird nicht nur der Zug auf eine andere Spurbreite umgerüstet, sondern auch die Wahrnehmung. Ist Weißrussland eine Diktatur? Mit welchem Maß misst man Freiheit? Zählt die freie Wahl des Präsidenten dazu oder die freie Wahl des Urlaubsorts? Muss ich mir meine Aufzeichnungen in die Fußnägel kratzen, um sie am Geheimdienst vorbeizuschmuggeln?
II
Witja hat vor kurzem mit Frau und Kind eine neue Plattenbauwohnung am Stadtrand von Minsk bezogen. Er und sein Bruder sind gutmütige Kerle mit Boxergesichtern, gebügeltem Hemd und Goldkettchen. Sie leben von kleinen Geschäften, manchmal kaufen sie Autos in Deutschland.
Nach zwei Wochen dort haben sie aber immer Heimweh. „Rodina!“, sagt Witja und pocht sich aufs Herz. Das Wasser schmecke nicht, und von der deutschen Wurst werde man fett. Ihr Respekt allerdings ist grenzenlos, man hat ihnen erzählt, bei uns gebe es Tomatenpflanzen, die an einem Tag wachsen. Ob das stimme?
Anders als unsere Russischlehrerinnen an der Uni haben sie keine Hemmungen, über Politik zu reden. Lukaschenko würde die Leute kaufen, und die Mehrheit sei eben dumm. Man bekomme eine Wohnung auf Kredit und sei dann 40 Jahre in der Schuld des Staats, ohne umziehen zu dürfen. Gerne würden sie eine Autowaschanlage aufmachen, aber der Staat hat alles in der Hand. Bei der letzten Wahl hätte die Jugend nicht abgestimmt. Und die Alten seien schon zufrieden, wenn es 5 Dollar mehr Pension gebe. Den Soldaten wurde gesagt: Guckt mal, was es heute Schönes zu essen gibt, aber erst unterschreiben!
Die beiden haben etwas Beruhigendes. In Diktaturen umgibt den Kleinkriminellen eine Aura von Freiheit.
III
Diktaturen neigen zur Paranoia. Im Buchladen gibt es eine mehrbändige Reihe: „Wenn morgen Krieg ist“, Band 3: „Lehrbuch für Aufklärer und Partisanen“. Man erfährt, wie man eine Mine baut und sich richtig hinter einem Busch versteckt.
Das Museum des Großen Vaterländischen Kriegs steht am Zentralplatz, wo eine Markierung den Mittelpunkt Europas anzeigt. Die Ausstellung beginnt im Keller mit tausenden Bildern von gefallenen Partisanen. Wehrmachtsoldaten, die sich grinsend vor Gehängten knipsen lassen. Kürzt man den Weg ab, rufen einem wachhabende Großmütter streng hinterher. Nach oben zu wird es heroischer. Man sieht Modelle von improvisierten Druckereien und Waffenmanufakturen im Wald. Ein gesprengter Schienenstrang als Beispiel für den Schienenkrieg. Berichte: „Wie wir deutsche Panzer mit Benzinflaschen gesprengt haben“. Den Sieg zeigt ein Saal mit einer weiße Stalinbüste aus Porzellan an.
Draußen treffe ich endlich auf eine Gruppe jugendlicher Aussteiger. Ein Punk fragt mich nach einem „Goldtaler“. Sie sitzen vor einem improvisierten Denkmal für Viktor Zoi, den Anfang der 90er verunglückten Sänger der Gruppe Kino. „Witja, du wusstest, wie schlimm es kommt, aber nicht, wie bald“, steht mit Edding an die Wand geschrieben.
IV
Minsk war im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört und ist vom sowjetischen monumentalen Baustil geprägt, der bei uns längst Kult wäre. Der ehemalige Leninprospekt ist eine achtspurige, 17 Kilometer lange Prachtstraße, die schnurgeradeaus führt. Es gibt Kinos, die doppelt so groß sind wie das Berliner „International“.
Die weißrussische Diktatur bietet nicht viel Absurdes fürs Auge. Der Personenkult hält sich in Grenzen. Hier und da hängt ein Lukaschenko-Bild, aber was kümmert es die Menschen? Die Honecker-Bilder blendete man in der DDR auch weg wie das Ticken der Wanduhr. Andererseits hinkt der Vergleich mit der DDR. Dort gab es das Korrektiv des Westfernsehens, eine relativ unabhängige Kirche und vergleichsweise Wohlstand, sodass man seine Karriere opfern konnte, ohne zu verhungern. Hier spielt man mit seiner Existenz.
Lukaschenko hat etwas, worum man ihn beneiden muss: Jeden Morgen, wenn er die Zeitung aufschlägt, liest er nur Lob über sich. Aber wer liest außer ihm schon die Zeitung? An den Kiosken liegen Wurstblätter und Frauenmagazine. Doch der Eindruck, dass die russischen Nachrichtenmagazine verboten sind, täuscht, es besteht nur keine Nachfrage, weil sie zu teuer sind.
Aber die wenigen oppositionellen Publikationen, die auf Weißrussisch erscheinen, sind tatsächlich kaum zu kriegen. Eine Verkäuferin verrät mir leise, dass sie sie nicht anbieten darf. „Verboten, seit drei Wochen.“
Über ein neues Gesetz versucht der Präsident momentan die Rockmusik zu kontrollieren. Wir gehen zu einem Protestkonzert. Hier sieht man auch Jugendliche mit langen Haaren und nach unseren Maßstäben normaler Kleidung. Zwei Polizisten mit kantigen Gesichtern beobachten die Menge, aber niemand beachtet sie. Ein paar weiße Fahnen mit einem Wisent werden geschwenkt, die gehören zur Oppositionsgruppe Zubr (Wisent) Ist es nicht gefährlich, sich so zu zeigen? Als Zugabe spielt der Sänger einen der düster raunenden Songs von Viktor Zoi und alle singen mit. Und plötzlich erlebt man, wie sich Rockmusik anfühlt, wenn sie wirkliche Sehnsüchte artikuliert.
In der Bjelorusskaja Gazjeta erscheint ein Bericht über dieses Konzert, in dem kritisiert wird, dass die Sänger die Gelegenheit für politische Statements genutzt haben. Aber es wird auch der offene Brief der Bands an die Regierung abgedruckt, und jeder versteht, dass das die eigentliche Botschaft ist. In der Bjelarus Sewodnja, der Staatszeitung, steht davon nichts. Für die alten Leute heißt sie immer noch Sowjetskaja Bjelorussija, wie seit 1927. Es ist die einzige Zeitung mit vernünftigem Druckbild, sogar in Farbe. Sie bringt tägliche Berichte von Ernteerfolgen und dokumentiert jeden Schritt Lukaschenkos.
Noch öder als die Zeitungslandschaft ist nur das Radio. Auf den vielen Sendern kommt fast rund um die Uhr russischer Diskopop. In der einzigen Wortsendung, die ich nach langem Suchen einmal erwische, erfahre ich, dass man seinen Hund nicht mit Kartoffeln füttern soll.
Wie überall in Osteuropa trifft man die Jugend vor McDonald‘s. Nachdem man sich an der Uni mit seinen H-&-M-Klamotten schon permanent underdressed vorkam, sieht man hier plötzlich auch Rastalocken und ein Sex-Pistols-T-Shirt. Man geht wohl auch als Rocker durch, wenn man im Trainingsanzug der deutschen Fußballnationalmannschaft rumläuft. Aber warum erwarten wir, dass sie hier aussehen müssen wie bei uns? Warum hält man die weißrussische, auf uns eher nuttig wirkende Mädchenmode für eine aus Mangel geborene Verfehlung? Lukaschenko behauptet in seiner Ankündigung des Referendums, vor zehn Jahren hätte Chaos im Land geherrscht. Fragt man nach, erfährt man, dass das gar nicht stimmt. Momentan geht es ihnen durch die staatliche Planwirtschaft in der Breite wohl wirklich besser. Jeder bekommt so viel, dass er nicht verhungert.
V
Der Tourist kann sich von der überraschenden Sauberkeit leicht täuschen lassen. Die Ampeln strahlen hell, die Fassaden glänzen. In keiner Sekunde fühlt man sich bedroht. Andererseits hat es etwas Unheimliches, dass niemand Flyer verteilt. Es gibt keine Plakate an den Wänden, Grafitti werden sofort übermalt. Es gibt nicht einmal Trampelpfade.
Wie bricht so ein System auf? Wenn es für die Staatsmafia nicht mehr genug zu verteilen gibt? Wenn es zu viele gibt, die nichts mehr zu verlieren haben? Wenn der Staat Bankrott geht, die Bevölkerung hungert? Wie finanziert sich diese Wirtschaft überhaupt, in der alles subventioniert ist?
Auf jeder Etage des Wohnheims sitzt eine Dienst habende Studentin. Die Frage, was sie hier mache, belustigt sie, eben „deschuritch“, auf die Ordnung achten. Das Studium kostet 1.000 Dollar im Jahr, 12 Dollar ein Wohnheimplatz. Für Politik interessieren sie sich nicht, sie haben genug zu tun. Sie sind fleißig, denn nach dem Studium wird man je nach Leistung auf einen Arbeitsplatz verwiesen, den man nicht ablehnen darf. Und was auf uns wie Autoritätshörigkeit wirkt, ist vielleicht nichts als der ungebrochene Respekt vor den Professoren. Sie lesen nicht die Zeitung, aber sie wissen, dass man den Tauchsieder so benutzen muss, dass der Plastegriff nicht im heißen Dampf schmilzt.
Erst nach Wochen entdecke ich am Brotstand des Supermarkts eine Art Schuhanzieher an einer Strippe, mit dem man die Brote drücken und auf Frische prüfen kann. Wenn ich nicht einmal das sehe, warum bilde ich mir ein, über ihr Leben zu urteilen?
VI
Igor zeigt mir den Kladbischtsche „Wojennoje“, einen kleinen Friedhof, der wie ein hügeliges Waldgrundstück aussieht. Die Gräber stammen aus der Kriegszeit, als man kein Geld für richtige Grabsteine hatte. Die Kreuze sind aus allen Sorten Rohren und Blech zusammengeschraubt, als hätte man einen Schrottplatz geplündert. Die provisorischen Namenschilder sind mit Hand gemalt.
Auf meine Fragen nach der Politik will er nicht eingehen. Lieber schwärmt er von seiner Stadt und den Menschen hier, von denen er tausende Porträtfotos gemacht hat, alten Leuten, Bauern, Kriegsveteranen, Tschernobyl-Opfern. Über „ihn“ spricht er nur, indem er mit einer Geste einen Schnurrbart andeutet. Dafür erklärt er uns das deutsche Wirtschaftswunder. Die nach dem Krieg von den Russen mitgenommenen Maschinen seien durch neue Maschinen aus Amerika ersetzt worden. Bei ihnen würden die in Deutschland erbeuteten Vorkriegsmaschinen immer noch laufen. Ich frage ihn, wem es eigentlich mehr nützt, wenn der Westen im Land investiert: dem Regime oder den Menschen? Erfüllt Coca-Cola, das mit seiner Fabrik Arbeitsplätze nach westlichem Standard und mit gesicherter Bezahlung schafft, eine humanistische Mission?
VII
Den Menschen ist die gegenwärtige Situation unangenehm, niemand will von der Welt isoliert sein. Haben sie Angst vor dem Geheimdienst? Möglicherweise, aber sie wollen ihr Land vor dem Gast auch nicht in schlechtem Licht dastehen sehen. Es wird eine andere Zeit kommen, man hat viele Herrscher erlebt. Und ein Volk, das im Krieg ein Viertel seiner Bevölkerung verliert, hat vielleicht andere Maßstäbe.
Aus dem Fenster sehe ich einen Spielplatz. Kindergartenplätze sind billig, aber die Eltern müssen wegen der schlechten Ausstattung mit Spenden aushelfen. Ein paar Jungs spielen auf einem Asphaltplatz Fußball. Quer über das Spielfeld hat jemand in großen Buchstaben geschrieben: „Mischutschka“, ich liebe dich sehr.
Nach einem Monat stellt sich der Blick langsam auf die andere Spurbreite um. Aus einer der Etagen des Wohnheims singt Victor Zoi: „Veränderung! Fordern unsere Herzen. Veränderung! Liegt in unserem Blick! In unserem Lachen, in unseren Tränen und im Pulsieren unserer Venen. Veränderung! Wir warten auf Veränderung.“
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