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Feministische Studie zu MigrationEntwurzelung und Ankunft

Die Lateinamerikanische Fraueninitiative Neukölln entwickelt eine Studie zu Migration mit dem Ziel, Frauen bei der Integration zu helfen.

Filmstill aus „Un Planeta“ mit Edna Martínez, Soziologin an der FU und Vereinsvorsitzende von LAFI Foto: Isabel Calderón

Die Kamera zeigt auf ein Straßenschild in Neukölln, eine Erzähler*innenstimme liest einen Text der mexikanischen Journalistin Yesica Prado, in dem es um die Geschichte der Menschheit geht und wie diese gleichzeitig eine Geschichte der Migration ist. In der nächsten Szene breitet eine Frau eine Decke mit aufgedruckten bunten Händen aus.

So beginnt „Un Planeta“, ein Film von Isabel Calderón, einer aus Kolumbien stammenden Dokumentarfilmerin, der in Zusammenarbeit mit der Lateinamerikanischen Fraueninitiative Neukölln (LAFI) entstanden ist. In 115 Minuten kommen zehn migrantische Frauen aus Lateinamerika und der Karibik zu Wort, die über ihre Lebensrealitäten in Berlin erzählen. Der Film soll als audiovisuelle Vorschau zu einer Studie dienen, die sich mit dieser Thematik befasst.

Genaue Zahlen über die hier lebenden Lateinamerikanerin*innen gibt es nicht, laut Goethe-Institut sind es geschätzte 12.000. Die Studie wird von Migrant*innen durchgeführt, die Erfahrung in der partizipativen Forschung sowie mit den Themen Gender, Menschenrechte und sexueller Gesundheit haben. Neben der Untersuchung aktueller Studien über Gender und Global Citizenship werden repräsentativ 100 Frauen in Berlin über ihre Motivation für die Migration und ihren Schwierigkeiten befragt.

Die Interviews werden von selbst veranstalteten Workshops mit Fokus auf Menschenrechte, internationale Bürgerschaft und Dekolonialisierung begleitet. Im Anschluss sollen kritische Punkte der Erfahrungen dieser Frauen identifiziert werden, um ihnen nützliche Werkzeuge an die Hand zu geben. Ziel der Studie ist es, Empfehlungen für politische Maßnahmen vorschlagen zu können und die Perspektive von Migration zu verändern.

Ich habe das Gefühl, es gibt keinen Platz für mich.

LAFI e. V. wurde 2017 gegründet und organisiert unter anderem Vorträge und Workshops zum Thema Gender, Migration und Dekolonialisierung. Zudem arbeitet der Verein international mit weiteren feministischen Organisationen wie Mujeres Farianas in Kolumbien oder der Kurdischen Frauenbewegung in Berlin zusammen und bietet Boxkurse für FLINT* Personen (Frauen*, Lesben, inter, non-binary und trans*) in Neukölln an.

Doch was sind das für Erfahrungen, die lateinamerikanische Frauen in Berlin machen? Die Soziologin und LAFI-Vorsitzende Edna Martínez erzählt zum Beispiel, dass sie als schwarze Frau die Stadt zunehmend agressiver empfinde: „Ich habe das Gefühl, es gibt keinen Platz für mich.“

Dagegen glaubt die Historikerin Andrea Cagua zwar, dass ihr in Berlin viele Chancen offenstünden – doch selbst als Akademikerin seien nicht alle Chancen greifbar. Auch wenn sie etwas kritisiere, hieße es oft von anderen, Lateinamerikaner*innen seien dramatisch.

Die Motivation, sich bei LAFI zu engagieren, kam aus dem Wunsch heraus, in Berlin Veränderungen zu schaffen, berichtet Cagua: „Als ich in dieser Stadt angekommen bin und mit Vorurteilen konfrontiert wurde – weil ich eine Immigrantin oder Latina bin –, dachte ich, dass es mein Fehler war und dass ich weiter lernen sollte, wie man sich besser integriert.“

Ferner erzählt Cagua, dass es nicht um ihre Persönlichkeit oder Kultur gehe. „Im Gegenteil, ich musste mehr Räume des Dialogs zwischen dem Ort, von dem ich komme, und dem Ort, an dem ich bin, suchen.“ So einen Raum habe sie bei LAFI gefunden. Es sei ein Raum, der sie als Migrantin empowert habe, da sie dort über Diskriminierungserfahrungen oder Gefühle der Entwurzelung reflektieren konnte. Die Mitglieder seien zu einem Unterstützungsnetzwerk untereinander geworden, um sich als Frauen zu verwirklichen.

Erwartungshaltung in Deutschland sei, dass Migrant*innen sich anpassen

In dem Verein engagieren sich Frauen* mit unterschiedlichen Herkünften und Hintergründen mit dem Ziel, anderen mit ihren Erfahrungen zu helfen, sich besser zu integrieren. Aber um Anpassung geht es ihnen nicht. „Wir sind Teil dieser Gesellschaft, wir müssen uns nicht anpassen“, sagen sie. Die Erwartungshaltung in Deutschland sei immer, dass Migrant*innen sich anpassen müssten, obwohl sie die Gesellschaft durch Kultur, Diversität und Sprache bereichern könnten. Berlin sei jedoch gerade aufgrund von Migration interessant.

Daher gebe es auch die Studie: „Wir wollen Strukturen schaffen, die unsere sind. Es wird immer über uns geredet, aber es gibt keinen Platz für unsere Stimmen.“ Und aus diesem Grund habe der Film die Frauen auch so inspiriert: Sie hätten sich in der von den Protagonist*innen im Dokumentarfilm beschriebenen Faszination und Überwältigung beim Ankommen in Berlin selbst widergespiegelt gesehen.

Deshalb sei es für sie wichtig, dass nicht Weiße, sondern lateinamerikanische Frauen die Studie erarbeiten, um die koloniale Denkweise, den „anderen“ zu erforschen, nicht noch weiter zu fördern: „Hier erforschen wir uns selbst.“ Sie wollen die Realität zeigen, da die Perspektive von lateinamerikanischen und karibischen Frauen weitgehend unbekannt sei.

Das Ende des Films zeigt noch einmal die zehn Frauen im Schnelldurchlauf mit Blick auf den Fernsehturm, das Wahrzeichen von Berlin – und vielleicht auch ein Zeichen dafür, endlich angekommen zu sein.

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4 Kommentare

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  • Die Soziologin und LAFI-Vorsitzende Edna Martínez erzählt zum Beispiel, dass sie als schwarze Frau die Stadt zunehmend agressiver empfinde: „Ich habe das Gefühl, es gibt keinen Platz für mich.“

    Diese Wahrnehmung teilt Frau Martínez mit vielen nichtmigrantischen Einwohnern und ist in Berlin total verbreitet.

  • Grundsätzlich sind selbstbewusste Frauen zu fördern. Aber der Satz :Wir sind Teil dieser Gesellschaft, wir müssen uns nicht anpassen" halte ich für falsch und problematisch. Ich empfinde es als normal, dass man die Regeln des Landes akzeptiert, in das man immigriert. Bei uns ist es das Grundgesetz und natürlich sollte Mann/Frau der deutschen Sprache mächtig sein, wenn man für immer hier leben möchte. Dass Migranten die Bräuche und Sitten der Aufnahmegesellschaft kennen und akzeptieren, halte ich auch für selbstverständlich.



    Ansonsten grenzen die Migranten sich selbst aus, dürfen sich dann aber nicht wundern, das Sie nicht Teil der Gesellschaft sind und lediglich Forderungen zu stellen, wird nicht dazu beitragen die Bevölkerung mitzunehmen und die Akzeptanz zur Einwanderungsgesellschaft erhöhen. Ansonsten entsteht kein Wir-Gefühl. Das Leben in Deutschland sollte nicht als Einbahnstraße verstanden werden.



    Das die Migranten ihre Kultur und Religion hier pflegen, solange es mit dem Grundgesetz vereinbar ist, sollte auch selbstverständlich sein.

    • @bleibzuhaus:

      Sie vergessen dabei eins ! Wenn nicht gewollt wird, das Menschen sich hier anpassen, dann können die sich anstrengen wie sie wollen.

      • @Torsten Pauleit:

        Ich habe eher den Eindruck, dass der Anpassung entschieden entsprochen wird. Wie sagt Erdogan sinngemäß: Anpassung ist Assimilation und das verstößt gegen Menschenrechte. Habe im meinem Freundeskreis einige ehemalige Asylbewerber dabei. Die fühlen sich pudelwohl haben keinerlei Probleme die Regeln hier bei uns zu befolgen und für Sie ist es auch eine Selbstverständlichkeit die Regeln zu befolgen und sind mittlerweile auch beruflich erfolgreich.