Feinheiten des Teigstrang-Gebäcks: Fragen Sie die Brezologin
Am Sonntagabend zur Wahl in Baden-Württemberg kann es nur ein passendes Gebäck geben: dünnarmige schwäbische Brezel mit dickem Bauch.
Als mich der Auftrag ereilte, ich möge einen Text über Brezeln schreiben, war meine erste Reaktion ein nie dagewesener Panikanfall. Mein Gesicht wurde fahl, meine Ohren heiß und rot, und meine Arme begannen unkontrolliert zu schlackern. „Ein Text über Brezeln“ – sollte ich mich wirklich auf dieses hochgefährliche Minenfeld voller Fettnäpfchen wagen? Sei’s drum.
Als gebürtige Westfälin dachte ich immer, Brezel sei halt Brezel. Wie dumm ich doch war. Dann aber führte mich ein amouröses Abenteuer tief in die südlichen Gefilde unseres Landes, weit in einen Kulturkreis, der dem meinen so fremd und deshalb so faszinierend war. Ich erlernte mehr oder weniger gut die Sprache und fühlte mich inmitten feiernder baden-württembergischer Eingeborener plötzlich nicht mehr wie eine Idiotin, die nichts versteht und nur blöd gucken kann. Ich begann auch, den Unterschied zwischen Schwaben und Badensern … oh, Verzeihung, zwischen Schwaben und Badenern zu lernen. Heute vermag ich zu sagen, dass ich in der Urbevölkerung mittlerweile als eine der Ihren akzeptiert werde.
Wie anders verhielt es sich da mit den Brezeln. Ich hatte ja nicht geahnt, welche Vielfalt da über mich hereinbrechen sollte, welche symbolische Bedeutung und religiöse Sprengkraft die verschiedenen Ausführungen dieses geheimnisvollen Gebäcks besitzen.
Ich erinnere mich, als wäre es erst gestern gewesen, als ich im Ländle frohgemut zu einer Backstub’ sprang, um leichten Herzens meine erste eigene Brezel zu kaufen. Doch kaum hatte ich den duftenden Laden betreten, stockte mir auch schon der Atem. Brezeln über Brezeln in der Auslage, dicke, dünne, helle, dunkle, große, kleine, mit Streuseln oder ohne – ich wollte schon den Rückzug antreten, als sich die Bäckerin vor mir aufbaute und nach meinem Begehr fragte.
Heute bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich wirklich einen spöttischen Zug um ihre Mundwinkel wahrnahm, damals aber wusste ich genau, dass sie in mein Innerstes blickte. „Bitte“, so flüsterte ich mit gebrochener Stimme, „ich möchte eine Brezel kaufen.“ Die Bäckerin betrachtete mich mit stechendem Blick, deutete mit einer fast segnenden Handbewegung auf die Auslage und fragte schnarrend: „Nun, welche?“ Ich konnte meinen Blick nicht von dem ihren befreien, ich stand da wie das Kaninchen vor der Schlange und deutete nur mit bebendem Zeigefinger irgendwohin und krächzte leise: „Die da.“
Was ich dann nach Hause trug, war ein wagenradgroßes, wabbeliges, fast weißes Teil mit riesigen Zuckerstücken bestreut und ganz gewiss nicht das, was ich ursprünglich hatte haben wollen. Eine österliche Fastenbrezel, wie ich mittlerweile weiß. Ich wurde mir meiner eigenen Unzulänglichkeit bewusst, und mein Ehrgeiz war geweckt.
Fortan widmete ich mich in jeder freien Minute der Brezologie. Ich erlernte den Unterschied zwischen der gleichmäßig dicken Bayerischen Brezn zur dünnarmigen Schwäbischen Brezel mit dem dicken Bauch. Ich weiß jetzt auch, dass man die Bayrische Brezn nur mit Weißwurst, Weißbier und vor zwölf Uhr mittags essen darf, sonst wird man vom Blitz erschlagen. Die Reihenfolge historischer Erwähnungen verschiedener Brezeltypen, ihre Bedeutung für die Freimaurer und die mannigfachen Legenden ihrer Herkunft kann ich inzwischen auswendig aus dem Effeff hersagen, genauso wie die geheimen Codes der Bäcker-Innungen. Auch ihren Einfluss auf die Weltpolitik weiß ich jetzt zu schätzen. War es doch eine Brezel unbekannter Herkunft, die am 12. Januar 2002 den US-amerikanischen Präsidenten George W. Bush wagemutig vom Sofa geschubst hatte.
Die nächste große Aufgabe, die ich bei meinen Forschungen in Angriff nehmen werde, ist die vollständige und endgültige Beantwortung der Frage, wer wann und wo genau die Brezel erfunden hat. War es der Hofbäcker Frieder aus Urach, der nach einem Frevel sein Leben nur retten konnte, in dem er einen Kuchen buk, durch den man dreimal die Sonne sehen konnte? Oder war es sein elsässischer Kollege Dorebaek aus Ingwiller, der ein gleichartiges Problem mit einem dreifenstrigen Brot löste? Oder wer ganz anders? Ich werde es herausfinden und mir damit mächtige Feinde machen. Doch auch Galileo war die Wahrheit wichtiger als seine Angst vor der Obrigkeit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken