: „Feige und hinterhältig“
Im Namen des Volkes? Greis Erich Mielke wurde gestern zu sechs Jahren Haft verurteilt, weil er in der Weimarer Republik zwei Polizisten erschossen haben soll. Ein NS-Prozeß, von bundesdeutscher Justiz zu Ende gebracht: kein Ruhmesblatt
„Nach mehr als 62 Jahren ist es gelungen, einen der Täter, die 1931 auf die Polizisten Paul Anlauf und Franz Lenk geschossen haben, zur Verantwortung zu ziehen.“ Mit diesen Worten eröffnete gestern der Vorsitzende Richter Theodor Seidel die Urteilsbegründung im Bülowplatz-Prozeß. Erich Mielke, der längst schon nicht mehr versucht, vor Gericht den Irren zu mimen, nimmt wach und schweigend das Urteil der 23. Großen Strafkammer entgegen: Sechs Jahre wegen vollendeten Doppelmordes sowie versuchten Mordes – gemessen am Tatvorwurf ein bis an die Grenzen der Plausibilität mildes Urteil. Und dennoch, ob es Sinn macht, den 85jährigen ehemaligen Minister für Staatssicherheit der DDR wegen der Morde in der späten Weimarer Republik zur Verantwortung zu ziehen, ob es der bundesdeutschen Justiz angemessen war, einen NS-Prozeß aus dem Jahre 1934 zu Ende zu bringen, und ob der Urteilsspruch aufgrund korrekter, rechtsstaatlich über jeden Zweifel erhabener Beweismittel zustande gekommen ist, darüber wird weiter gestritten werden.
Stehend und äußerlich ungerührt nimmt Mielke das Urteil entgegen – keine Reaktion, aus der man schließen könnte, ob er es war, der am 9. August 1931 auf dem Berliner Bülowplatz die beiden Streife gehenden Polizisten erschoß. Nur die, bei den Prozessen gegen ehemalige DDR-Größen immer präsenten Altvorderen auf den Zuschauerbänken wissen Bescheid, quittieren das Urteil mit „Pfui“-Rufen, titulieren Richter Seidel als „Faschisten“.
Doch der läßt sich nicht aus der Ruhe bringen, mahnt immer mal wieder Richtung Zuschauer und beendet ansonsten jeden Abschnitt seiner Urteilsbegründung mit der Feststellung, „daß Mielke geschossen hat“. Sichtlich unzufrieden mit dieser Auffassung gibt sich Rechtsanwalt Stefan König. Mißmutig folgt er den Ausführungen, mit denen der Richter die umfangreichen Recherchen zur Entlastung des Angeklagten kleinargumentiert. Umtriebig und bis hart an die Grenze der Prozeßverschleppung hatte König während der zurückliegenden 86 Prozeßtage immer wieder neue Zeugen aufgetan, neue Zweifel an der Verwertbarkeit des Aktenbestandes aus der NS-Zeit erhärtet und so einen Freispruch zu begründen versucht. Königs Mißmut ist verständlich, hat doch die Kammer ein Urteil gefällt, das – mit sechs Jahren Freiheitsentzug statt lebenslänglich – auch die angekündigte Revision überdauern könnte.
Immerhin arbeitet sich Richter Seidel in seiner Urteilsbegründung minutiös an den Zweifeln der Verteidigung entlang: Ist die Tat nicht längst verjährt? Ist, aufgrund des unvollständigen Aktenbestandes, ein faires Verfahren überhaupt zu gewährleisten? Halten die Beweismittel rechtsstaatlichen Grundsätzen stand, und läßt sich mit ihrer Hilfe ein lückenloser Tatnachweis führen? Auf alle diese Fragen antwortet das Gericht mit ja.
Geschickt umschifft Seidel das Zentrum der Verteidigung, die Kritik am Hauptbelastungszeugen Johannes Broll, der 1933 Mielke der Tat beschuldigt hatte. Zur Vermutung Königs, Broll, zur Tatzeit Kommunist, sei mißhandelt und zu seiner Einlassung gezwungen worden, passe nicht, daß Broll im März '33 in die SA und im Mai in die NSDAP eingetreten sei. Auch sei nicht plausibel, warum einer, dem man zuvor mit Gewalt Aussagen abgerungen habe, kurz darauf als „Ermittlungshelfer“ der SA gedient habe. Schließlich sei nicht einzusehen, warum die Nazis Broll zu einer Aussage gegen den für die deutsche Justiz längst unerreichbaren Mielke genötigt haben sollten, statt ihn zu verwertbaren Aussagen gegen die im ersten Prozeß, 1934, Angeklagten zu zwingen. Dennoch relativiert Seidel die Bedeutung der umstrittenen Aussage für das Urteil: „Hätten nur die Vernehmungsprotokolle zur Verfügung gestanden, hätte die Entscheidung wahrscheinlich anders ausfallen müssen.“ Doch die Übereinstimmung der Broll-Aussage mit anderen zweifelsfreien Einlassungen rechtfertige dessen Berücksichtigung für das Urteil. Ob sich jedoch die These des Gerichtes halten läßt, „daß die Ermittlungen seinerzeit“ – also 1933/34 – „nur dazu dienten, die objektive Wahrheit zu finden“, bleibt mehr als fraglich.
Zu den zweifelsfreien Einlassungen zählte das Gericht, die während des Prozesses in Moskau aufgefundenen Lebensläufe des Angeklagten, in denen sich dieser mit dem inzwischen vielzitierten Satz des Mordes bezichtigt hatte: „Meine letzte Tat für die Gruppe war die Bülowplatz-Sache, die ein anderer Genosse und ich zusammen ausführten.“ Während König in seinem Plädoyer die journalistische Recherche nach den in Moskau lagernden Lebensläufen als „Unding“ bezeichnet hatte, wertete Seidel die Dokumentensuche des Historikers Götz Aly als „Glücksfall für die Wahrheitsfindung“. Zwar – soweit folgte das Gericht der Verteidigung – habe es falsche Bezichtigungen geflohener Kommunisten zur Entlastung beschuldigter, in Deutschland angeklagter Genossen gegeben. Doch könne damit die Selbstbezichtigung Mielkes in einem, nur intern verwendeten Lebenslauf ebensowenig in Zweifel gezogen werden wie dessen gleichlautende Einlassungen aus den 50er Jahren.
So gehört es zu den ironischen Seiten des Prozesses, daß Mielke selbst die Grundlage für seine gestrige Verurteilung schuf: er dokumentierte im Laufe der Jahrzehnte immer wieder seine Tatbeteiligung und verwahrte selbst – aus Stolz auf seine revolutionäre Jugendzeit? – die Akten des ersten Bülowplatz-Prozesses, die Broll-Aussage, den Haftbefehl, in seinem Panzerschrank – bis sie dort 1990 gefunden wurden.
Auf diesen Fund hatte sich die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft im jetzt zu Ende gegangenen Verfahren beschränkt. Von Ermittlungen keine Spur. Ihr schien die Anklageschrift von '34 genug, um für Mielke lebenslänglich zu fordern. Dem ist das Gericht nicht gefolgt. In der bemerkenswerten Begründung des niedrigen Strafmaßes – zwei Drittel seiner Haft hat Mielke fast schon um – bezweifelte Seidel, daß Mielke 1931 aus „niederen Beweggründen“ zum Mörder geworden sei. Zwar habe er „feige und hinterhältig“ auf die „arg- und wehrlosen“ Polizisten geschossen. Doch müsse berücksichtigt werden, daß die Polizei damals selbst allzuschnell zur Waffe gegriffen habe. Seidel erinnert an die 30 toten Arbeiter im „Weddinger Blutmai“ 1929. Ein „Lebenslänglich“ entspreche auch nicht dem außergewöhnlichen Umstand, daß der Angeklagte 85 Jahre alt ist und die Tat 62 Jahre zurückliegt.
Längst hat Mielke das Interesse an Seidels Ausführungen verloren. Er beschäftigt sich mit einem blauen Zettelchen, das er abwechselnd bekritzelt, dann hochhält und liest. Ihm gegenüber sitzt Dora Zimmermann, die letzte lebende Tochter des ermordeten Paul Anlauf. 1931 elf Jahre alt, wurde sie durch die Tat zur Vollwaise. Konzentriert folgt sie den Worten des Richters. Dora Zimmermann – das hat sie im Laufe des Prozesses bekundet – will Gerechtigkeit für den Mord an ihrem Vater. Zweifeln, daß es dem Gericht um anderes ging, widerspricht Seidel: „Das Verfahren wurde nicht geführt, weil Mielke Minister für Staatssicherheit der DDR war, es mußte Kraft des Gesetzes geführt werden.“ Doch – das weiß auch der Richter – Mielkes Platz „im Buch der Geschichte“ gebührt nicht dem Mörder vom Bülowplatz, sondern „einem der diktatorischen Polizeiminister dieses Jahrhunderts“. Matthias Geis, Berlin
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen