Faszination Karate: Der Kämpfer und sein Lehrer
Seit 30 Jahren unterrichtet Carlos Molina Karate. Derzeit hat er Besuch des 91-jährigen Kenei, den er sehr verehrt. Das Gefühl von Respekt fehlt vielen jungen Schülern, sagt Molina.
Für sich will Carlos Molina keine Publicity. "Wir machen keine Werbung für unser Dojo", sagt er. Seit 20 Jahren wird in der 300 Quadratmeter großen Hinterhofhalle in der Oranienstraße in Kreuzberg Karate gelehrt. Kinder von Leuten unterrichtet Molina, die selbst als Kinder bei ihm waren. "Das hier, das läuft", sagt er.
Und nun macht er doch eine Ausnahme. Nun stellt er sich vor die Presse. Weil sein Vorbild nach Berlin kommt. Sein Idol. Sein Lehrer. Sein geistiger Vater. Es ist der 91 Jahre alte Japaner Mabuni Kenei. Am Wochenende ist der japanische Karategroßmeister bei Molina zu Gast. Molina verbeugt sich vor ihm, und er möchte, dass die Verehrung öffentlich wird. "Ich tue es, um meinen Respekt zu zeigen", sagt er.
Molina steht in der großzügigen Sportetage, Säulen stützen den Raum in der Mitte. Um ihn herum tobt eine Schar Kinder. In der Schule sind die Mädchen und Jungen alle schon, in der Pubertät noch nicht. Manche der Kinder halten ihr Karate-Outfit mit gelben, manche mit grünen oder blauen Gürteln zusammen. In der Hierarchie der Karatewelt stehen sie nicht mehr auf der untersten Stufe.
Wie in einer Choreografie üben sie mit Molina ihre Katas, die einstudierten Bewegungsabläufe. Bei einigen der Kinder sieht es aus, als schmiegten sie sich in die Bewegungen hinein, als tanzten sie. Anderen ist die Anstrengung anzumerken. Sie führen ihren Körper vom Kopf her. Sie müssen die Bewegungen denken, bevor sie sie ausführen. Zuerst kommt das, dann kommt das. Was kommt dann, was dann? Stockend und ungelenk wirkt das mitunter.
Nach den Übungen präsentieren die Kinder Bewegungsabläufe. Zu zweit führen sie die einstudierten Katas vor. Anschließend dürfen die anderen Kinder sagen, was nicht stimmte. "Dein Arm, der hätte so sein sollen", sagt ein Mädchen und führt ihre Hand zur Schulter, "aber er war am Bauch." Für Karate-Unerfahrene hört sich das an, als ginge es um Kleinigkeiten. Um Regeln, die nur für die einen Wert haben, die sie aufgestellt haben.
Mit so einer Sicht auf die Dinge macht man sich bei Molina nicht beliebt. Auf gar keinen Fall ginge es um das starre Verfolgen von Vorgaben, sagt er. Schon gar nicht bei der Karatestilrichtung, dem Shito Ryu, die bei ihm gelernt wird. Denn diese sei aus dem Widerstand geboren. Im Gegensatz zu den großen Stilrichtungen wie etwa Shotokan sei bei Shito Ryu nicht wichtig, Erster zu sein oder besser als die anderen. Vielmehr geht es ums gegenseitige Lernen. "Wir nehmen voneinander an. Und wir verehren die, von denen wir am meisten gelernt haben."
Molina hat am meisten von Mabuni Kenei gelernt. Der alte Mann ist der Sohn des Gründers der Karaterichtung, die Molina unterrichtet. Auf Okinawa, dort, wo der Ursprung des Karate - einer Mischung aus chinesischen Kampfsporttechniken und dem Jiu-Jitsu - liegt, lebten die Mabunis. Allerdings zu einer Zeit, als die Inseln von den Japanern besetzt waren und Kampfsport nicht als Kampfsport daherkommen durfte. So hat sich Shito Ryu herausgebildet - eine meditative Verfeinerung des Karate, das Elemente von Qigong und Tai-Chi mit aufgenommen hat. "Bei uns gibt es mehr als 80 Katas", erklärt Molina. Im Kampfsportkarate sind es kaum zwei Dutzend.
Molina hat Shito Ryu in Guatemala, wo er 1947 geboren wurde und aufwuchs, kennengelernt. Ringer und Boxer war er - im Nationalkader. In den 60er-Jahren nahm er noch Karate dazu. Denn damals war Mabuni Kenei, der japanische Karatemeister, einer Einladung nach Mexiko und Guatemala gefolgt und in Mittelamerika hängen geblieben.
In Guatemala war das Militär an der Macht. Bürgerkrieg herrschte. Freunde von Molina verschwanden. Er schildert es so, als hätte man sich nur begrenzt darüber gewundert. Als wären Menschen immer verschwunden. "Es hat ja eine Militärregierung der anderen den Stab gereicht." Ihm jedenfalls wurde es Mitte der 70er-Jahre in Guatemala zu gefährlich. Er ging nach Berlin. "Was die Militärs in Guatemala anrichteten, das habe ich erst in Berlin richtig verstanden. Ich habe hier auch erst richtig verstanden, dass Politik anders laufen kann." Ein Revolutionär war Molina nicht.
In Berlin strandet er in einer Wohngemeinschaft in Kreuzberg. Und bald findet er sich im Kreis der Leute wieder, die die UFA-Fabrik in Tempelhof besetzen. Dort baut er das erste Karate-Dojo auf und unterrichtet, was er kann und liebt: Shito Ryu Karate. Ende der 80er-Jahre findet er die Räume in der Oranienstraße und baut sein eigenes Dojo auf. Eine Frau findet er auch.
Vor den Trainings verneigt er sich mitunter vor einem Bild, das an einer Wand in der Turnhalle hängt. Es zeigt den Vater seines 91-jährigen Gastes. "Wir verehren die, die uns ihre Wege gezeigt haben", sagt Molina. "Aber wir verneigen uns auch vor denen, mit denen zusammen wir neue Wege suchen."
Und dann lässt er in Gedanken die Generationen an Karateschülern und Karateschülerinnen vorbeiziehen, die er schon unterrichtet hat. Dabei sieht er etwas, das ihm missfällt: "Die Kinder heute, die spüren die Grenzen nicht mehr", sagt er. "Deshalb können sie sich nicht richtig bewegen." Als wüssten sie nicht, wo sie aufhörten und die anderen begännen. "Wir müssen ihnen die Grenzen zeigen." Manche Kinder reagierten aggressiv, andere seien gehemmt. Das Dazwischen fehle. Das Dazwischen, das sei, wo Respekt anfinge. Respekt vor den Mitmenschen. Auch Sorge, Mitgefühl, Empathie.
"Wir müssen den Kindern vermitteln, dass jede Bewegung, wenn sie unkontrolliert ausgeführt wird, zu einer Begrenzung für andere werden kann." Molina sagt es nicht so geschliffen, wie es hier steht. Wenn er spricht, klingt es nicht altklug. Das Deutsch, das er benutzt, ist dafür zu holprig.
Molinas Verhältnis zu seinem Lehrer steht für den Respekt, der anderen in einer sozialen Gemeinschaft entgegengebracht werden muss. So versteht er das. Zusammen mit anderen über die Welt verstreuten Karateka, die wie er selbst Mabuni Kenai als ihren Lehrer anerkennen, sorgen sie für den alten Mann. Damit er in Würde leben kann. Sie schicken ihm Geld, und sie tradieren sein Wissen. Molina hat sein Buch "Leere Hände" übersetzen lassen.
Im Dojo in Kreuzberg rennen die Kinder mittlerweile wild umher. Zuerst müssen sie aufeinander zulaufen und sich im letzten Augenblick ausweichen. Und danach müssen sie aufeinander zurennen, ohne sich auszuweichen. Kurz bevor sie sich treffen, sollen sie hochspringen und im Sprung ihre Hände gegenseitig aufeinanderschlagen. Give me five, give me ten. Es ist ein freudiger Begrüßungstanz zum Abschied.
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