: Fassungslos ob derartigen Unfugs
■ betr.: „Die Gesellschaft schafft sich immer neue Irre“, Interview mit Thomas Szasz, taz vom 10.7. 97
Ich kann gut nachvollziehen, daß engagierte Psychiatrieerfahrene ihre Positionen mühsam entwickeln. Nicht immer gelingt es, den organisierten Psychatrieerfahrenen, zwischen humanen Ansätzen einer beziehungsorientierten und sozialpolitisch wachen Psychiatrie einerseits und ihren Schattenseiten von Zwang und Gewalt auf der anderen Seite, zu differenzieren. Dieser Anspruch ist gegenüber der jungen Bewegung Psychiatrieerfahrener auch gar nicht immer gerechtfertigt.
Ich bezweifle aber, daß sich diese Bewegung einen Gefallen tut, wenn sie sich schmückt mit einem, der seit Jahrzehnten an falschen Positionen festhält (und starrsinnig im taz-Interview erneut seine Dummheiten ausbreitet). Herr Szasz nämlich müßte vieles besser wissen, statt nur ein Besserwisser zu sein. Beispielhaft sein Satz: „Wenn Psychiater wie Augenärzte oder Nierenärzte arbeiten würden, erhöbe ich keine Vorwürfe gegen sie.“ Das bedeutet doch: wenn Psychiater den Menschen auflösen in seine einzelnen Funktionsbereiche, diese mit hochtechnologischer Diagnostik durchleuchten und dann eine in der Regel symptomatische Behandlung mit mechanischen oder chemischen Behandlungsmethoden verordnen, dann ist Herr Szasz zufrieden. Ich bin wirklich fassungslos ob derartigen Unfugs.
Eine konstruktive Auseinandersetzung mit Beziehungsstörungen, ihren Wurzeln und ihren emotionalen Ausdrucksformen fehlt in seinen Antworten vollkommen. Psychiatrie ist ein Brennpunkt von Menschen mit massivsten Lebenskrisen. Darauf lieber mit Sitzenlassen als mit Therapie zu reagieren, wie Herr Szasz vorschlägt, finde ich nur zynisch. [...] Psychiatrie wird nicht ausschließlich von Psychiatern gemacht, wie es Herr Szasz immer behauptet, sondern von Teams unterschiedlicher Berufsgruppen, Männern und Frauen. Jeder bringt seine Gewalt- Biografie mit, genauso wie die Patienten. Gemeinsam gilt es daran zu arbeiten, daß Gewalt nicht einseitig, gedankenlos, unterdrückerisch, sexistisch usw. den Alltag beherrscht, sondern in einem dialektischen Prozeß von Verstehen und Verringern einen erträglichen Platz im Leben erhält. Ein Leben ohne offene Gewalt gibt es nur in den gruseligen Fiktionen von B.F.Skinner oder Aldous Huxley. Ingo Engelmann, Psychothera-
peut, Buchholz/Nordheide
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